Das gibt gelb!», ruft der Vater von Luca, dem Stürmer von Allschwil.
«Sei still, Schatz», sagt seine Frau Claudia. «Der Schiri stellt dich wieder vom Platz.» – «Mein Mann», sagt sie mit einem Augenzwinkern zu mir hin, «ist halt sehr engagiert.»
Ja, im Unterschied zu eurem Sohn, denke ich und versuche, die Resten in ihren Mundwinkeln zu ignorieren. Überall hin verschmiert sie ihren Senf, während sie die letzte Bratwurst isst. Die Vereinsbeiz hat sie ihr verkauft, nicht mir.
Jetzt beginnt es auch noch zu regnen. Dabei sagten sie im Radio, dass es trocken bleibt für die Begegnung des FC Basel mit dem Clube de Futebol Os Belenenses aus Lissabon.
«Da teilen wir hart aus», hast du heute früh verkündet.
Mir mit dem Ticket in der Hand gedankt für meinen Einsatz als Zuschauerin beim Match von Tom.
Da stehe ich nun am Spielfeldrand und friere im kalten Wind, der unseren Junioren C1 entgegenschlägt.
Während eine Hostess dir am VIP-Desk einen Hochglanzplastikbändel ums Handgelenk bindet und zeigt, wo ihr in den Hospitality-Welten des St. Jakob-Park eure Plätze findet.
«Schöööön!», rufen die Väter und Mütter hier bei mir, in der Industriebrache draussen.
«Neiiiiiin!», weil Luca wieder nur einen Lattenschuss zustande bringt.
«Der Winkel ist doch viel zu eng», sagt ein Vater.
«Der Achter wäre frei anspielbar gewesen», sagt der andere.
«Und wechselt endlich diesen Vierzehner aus. Zu wem gehört der?»
Zu mir. Mein Kopf wird heiss aus Scham, und Wörter wirbeln wild im Hirn. Was sagen zu diesem Typen? Nichts fällt mir ein. Da wäre jetzt deine Kompetenz im schnell gescheit antworten gefragt. Aber du verbringst ja den Abend mit lokaler Prominenz und Führungspersonen von kleineren und grösseren Unternehmen. Bedienst dich am Buffet mit thematisch passenden Gerichten, portugiesischen Muscheln und Bacalhau.
«Ooooh», stöhnen jetzt bloss noch die Väter an der Linie. Die Mütter haben andere Themenfelder gefunden. Neue Stufenübertrittsregelungen und Gamestunden pro Tag und welches Gesichtswaschmittel die Pickel von Luca vertreiben mag. Das dauernde Spielfeldrandgeschnatter geht mir gewaltig auf den Geist. Könnt ihr euch nicht mal auf den Moment konzentrieren? Dieser Konter hier dürfte nie passieren.
«Hopp Allschwil», rufe ich. «Jetzt macht endlich den Sack zu, Jungs, ihr seid nicht hier zum Spazieren!»
Und ich auch nicht, denke ich. Hunger habe ich nach einem Tag im Büro. Acht Stunden lang pausenlos mit dem Bildschirm konfrontiert. Vor dem Match noch schnell ein Projekt visioniert.
Deshalb erscheint mir wieder dieser Lissaboner Stockfisch vor Augen, der bei dir in der Baloise-Lounge liegt. Dazu Zitronengras-Süppchen und Ziegenkäse-Crostini, die dich beim Kontakteknüpfen begleiten.
«Was weisst du denn», sagst du immer, «vom dauernd reden müssen und essen. Du vergisst, wie belastend das Netzwerken ist.»
Für den Moment sehe ich aber bloss Vorteile. Gefüllte Datteln auf knusprigem Fladenbrot. Schälchen mit Crevetten und Avocado. Süsskartoffelstücke mit Basilikumpesto und Orangen-Tempeh.
«Ach, das», sagst du. «Macht auf Dauer keinen Spass.»
Also ich würde gerne übernehmen, was dir bis zum Hals steht. All diesen One-Bite-Fingerfood, gebettet in Löffelchen, dort im Stadion vom FCB.
«Wie ist das mit Tom?», fragt jetzt Claudia. «Schreibt er immer noch so gute Noten?»
«Nein», zische ich. «Er spielt Fussball und fokussiert auf schöne Flanken – und deiner?»
Diese Frage war ein Fehler. Eine steile Vorlage für einen Vortrag über Transdisziplinarität. Man sollte verstärkt übergreifend denken, meint Claudia. Die Freude am Fussball mit dem Schreiben und Lesen verschränken. Bei Luca habe so ein Projekt Interesse fürs Buch generiert. – Dafür die Fähigkeit zum Torschuss reduziert, denke ich und rufe:
«Lasst doch die Kinder und Geschichten frei wuchern und den Fussball zweckfrei im Spiel bleiben, ohne den Buchstaben oder dem OECD-Durchschnitt zu dienen. Bloss du, Luca, musst ran, dicht am Strafraum rumstehen, sich ab und an fallen lassen, reicht nicht!»
Die erschrockenen Gesichter vom Stürmervater und seiner Frau Claudia lassen mich innerlich im Triumph heulen. Sie sind ein kleiner Ersatz für das Côte de Bœuf, das du momentan auf deinem Balkonplatz im Joggeli verdaust.
Und der andere Vater dort soll es nicht wagen, noch einmal meinen Tom zu hinterfragen.
«Vier-drei-drei», sagt er soeben zur Frau, die bei ihm steht. «Ist eins der offensivsten Systeme des gegenwärtigen Fussballspiels.»
Ein Alleswisser wie aus dem Bilderbuch. Einer, der sich darin gefällt, Frauen mit Offside-Regeln zu quälen.
«Jetzt ist fertig mit diesem Mansplaining!», rufe ich. «Das Vier-vier-zwei-System taugt nicht nur für den Spielstart, auch wenn es hart auf hart …»
Noch viel mehr will ich sagen. Aber der Schiedsrichter pfeift. Zeigt zuerst auf mich und dann auf die Tür im Zaun hinter dem Spielfeldrand.
«Das war Scheisse, Mama», sagt Tom später, als er mit dampfenden Haaren in der Kälte vor der Haustür steht.
Ich bin unsicher, ob er den Match meint oder mich.
Aber besser nicht fragen, denke ich. Und schenke mir noch ein Bier ein.
Sandra Hughes
Geboren 1966 in Luzern. In ihrem Krimi-Debüt «Tessiner Verwicklungen» (Kampa Verlag) ermitteln die Baselbieter Polizistin Emma Tschopp und Commissario Marco Bianchi in Meride. Zuvor erschienen Romane, zuletzt «Fallen» (Dörlemann Verlag 2016). 2013 erhielt Hughes den Kulturpreis des Kantons Basel-Landschaft für Literatur, 2017/2018 ein Atelierstipendium der Landis & Gyr Stiftung für Schweizer Kulturschaffende.