Der Schweizer Film ist tot – lang lebe der Schweizer Film? Ein schöner Satz. Nur: Was vor 50 Jahren an den Solothurner Filmtagen skandiert wurde, stimmt heute nicht mehr. Weil es den Schweizer Film ganz einfach nicht mehr gibt. Es gibt mehr oder weniger interaktive, audiovisuelle Erzählungen, die mal über Computer, mal über Smartphones, Tablets und, ja, in seltenen Fällen auch in einem Kinosaal angeschaut werden. Aber «Film» als Zelluloid ist so relevant wie der Fax beim BAG. Oder eben doch noch zu relevant?
Man muss es festhalten: Die 2022-Edition der Solothurner Filmtage war ein Trauerspiel. Teilnehmen konnte nur, wer mitten in der Pandemie und trotz Homeoffice-Pflicht nach Solothurn reiste. Die Öffentlichkeit und die Branche reagierten mit Entsetzen.
Die «Solothurner Zeitung» meinte: «Warum um Himmels willen gibt es dieses Festival nicht als hybride Ausgabe?», und zitierte Sven Wälti, Leiter Film SRG SSR: «Die hohen Covid-Zahlen zeigen doch, jetzt wäre der ideale Zeitpunkt für ein hybrides Festival. Man muss ja nicht das komplette Programm online stellen. Doch eine geschickte Programmierung hätte eine Teilhabe all den Menschen erlaubt, die nun vom Festival ausgeschlossen sind.»
Der «Tages-Anzeiger» schrieb: «Bei einer kürzlichen Tagung der wichtigsten Schweizer Filmverbände und Regionalförderungen lautete der Grundtenor, dass dieses Jahr niemand wirklich Lust auf Solothurn habe.» Einige gingen noch weiter: «Wozu Solothurn?»
Es ist leider ein Fakt: Die Solothurner Filmtage behandelten auch wegen der fehlenden Kohärenz in der Trägerschaft des Vereins die Errungenschaften der Wissenschaft, der Epidemiologie und der Digitalisierung mit Verachtung. In der Art und Weise, wie mit der Pandemie umgegangen wurde, zeigte sich die digitalskeptische und zukunftsfeindliche Haltung des Festivals. Dieses entliess im Sommer lieber seine Direktorin Anita Hugi, anstatt für Januar 2022 ein hybrides Festival vor Ort und online anzubieten, welches Hugi als Digitalpionierin bereits im Frühling 2021 aufzugleisen begonnen hatte, da die Pandemie anhielt.
Nun wird eine neue künstlerische Leitung für die Edition 2023 gesucht. Nur: Wer soll sich da melden? Wer mit den Fähigkeiten, die es in Zukunft braucht, hat nun Vertrauen in diese unseriöse Festival-Struktur? Eins liegt auf der Hand und wurde vielfach festgehalten: Es können nicht die gleichen Leute über Anita Hugis Nachfolge bestimmen, die das Festival und die Branche in diese Krise hineingeritten haben.
Wir brauchen aber eine starke lokale Werkschau des hiesigen audiovisuellen Schaffens und eine starke künstlerische Leitung. Die Anziehungskraft – und schlagende Konkurrenz – der global agierenden Streaming-Giganten ist Realität. Storytelling ist heute überall. Wer sich ausschliesslich in den Kinosaal zurückzieht und glaubt, dass sich nur dort Kreativität und Diskurs bilden, belügt sich selbst und verkennt die Realität, in der wir heute leben. Eine Realität, die es zu gestalten gilt, wenn es in der Konkurrenz von Netflix & Co. ein audiovisuelles Schweizer Schaffen auch morgen noch geben soll.
Es braucht also eine Förderung von audiovisuellen Erzählungen, die mit den neuen digitalen Möglichkeiten kreativ mithalten – künstlerisch und in der Vermittlung. So bieten die Gelder, die ab Sommer 2022 von den Streaming-Giganten in den Schweizer Film fliessen sollen, neue Chancen, unter anderem, weil viel mehr besser finanzierte Schweizer Filme dann auch auf Netflix zu sehen sein werden.
Wenn es also darum geht, dass der Schweizer Film in die Zukunft treten will und die kommende «Lex Netflix» (= Investitionspflicht der Streaming-Giganten in die Schweizer Audiovision) beim Volk durchkommen soll, dann muss die Schweizer Erzähl-Branche jetzt beweisen, dass sie diese Zukunft auch betreten will. So hatte Hugi die Filmtage weiterentwickelt. Das junge Filmschaffen, die Westschweiz, die weiblichen Filmschaffenden, der angeregte Austausch fand neuen Raum in Solothurn. Eine neue Website mit Online-Magazin brachte den aktuellen Schweizer Film in den digitalen Raum. Die Werke, die dieses Jahr in Solothurn gezeigt wurden, waren von starker Strahlkraft (wie beispielsweise der Eröffnungsfilm «Loving Highsmith» von Eva Vitija oder der Film-Theater-Hybrid «Das Maddock Manifest» von Dimitri Stapfer und Benjamin Burger). Es gilt also etwas zu beschützen. Und es wäre dem Nachwuchs zu gönnen, wenn Netflix & Co. in Zukunft in dieses Talent investieren würden.
Dieses aber wollen die Gegner des schweizerischen Filmschaffens verhindern, indem sie diese Investitionspflicht mit einem Referendum bekämpfen. Im Mai 2022 werden wir darüber abstimmen. Die Gegner dieser Investitionspflicht schlafen nicht. Nein, sie sind hellwach. Sie sind zum Teil sogar fanatische Filmfans und werkeln nun begeistert an ihrer Anti-«Lex Netflix»-Kampagne herum, nutzen Fake News, die sie nun aber gut mit den realen Verfehlungen der dilettierenden Branche ergänzen und vermischen können – und sie werden dies auch tun. Ausser, eine neue Generation von hellwachen Filmschaffenden (wie jene Talente, die sich beispielsweise im Verein «Swiss Fiction Movement» finden) nimmt nun in einem dezidierten Akt die Zügel in die Hand und weist dem Bundesrat den Weg. Einen Weg, der in eine digitale Zukunft mit einer sinnvollen staatlichen Branchen- und Publikumsförderung führt und nicht in das Réduit einer geistigen Landesverteidigung – wie in Solothurn 2022.
Samuel Schwarz
Samuel Schwarz, 1971 in Langnau im Emmental geboren, ist Theater- und Filmregisseur. Nach seinem Studium an der Zürcher Hochschule der Künste gründete er 1998 gemeinsam mit Lukas Bärfuss und Wanda Wylowa die Freie Theatergruppe 400asa, die mit Hörspiel, Film und digitalen Medien arbeitet. Daraus entstanden ist etwa der Spielfilm «Mary & Johnny» nach Ödön von Horváth oder das transmediale Projekt «Der Polder». 2020 initiierte er mit Meret Hottinger das Maison du Futur, ein Kompetenzzentrum für Narration. Samuel Schwarz lebt in Zürich.