Der Gegensatz zwischen Wunsch und Wirklichkeit kann unüberwindbar sein, wie die gottähnliche Fantasyfigur Pampa Kampana erfahren muss: «Sie träumte tief in ihrem Herzen von der Stadt Bisnaga, in der alles Trennende, ob Kaste, Hautfarbe, Religion oder Gesinnung, unwichtig war und das Königreich der Liebe geboren wurde.»
Wurde es natürlich nicht. Die Stadt Bisnaga, einst von Pampa Kampana durch einen Samenwurf wundersam gegründet, erlebt zwar eine Blüte, in der das Wort regiert. Die Siedlung leidet aber unter den Intrigen der Menschen mit ihrer Missgunst und Gier – und vor allem unter religiösen Despoten.
Der Roman war schon vor der Messerattacke fertig
Diese fantastische Welt von «Victory City», eine Märchenwelt, baut der indisch-britische Schriftsteller Salman Rushdie in seinem neuen Roman auf. Er versteht es, vom Schicksal der Stadt Bisnaga mit Ironie und Humor zu erzählen: etwa wenn männliche Rabauken vor schönen Palastwächterinnen ins Zittern kommen. Der Autor kam letztes Jahr in die Schlagzeilen, als ihn bei einer Lesung in den USA ein Messerstecher attackierte. Rushdie verlor dabei ein Auge.
Seinen neuen Roman hatte er bereits vor dem Angriff fertiggestellt. Bereits 1989 hatte der iranische Religionsführer Ayatollah Khomeini eine Fatwa ausgesprochen – ein Todesurteil, gegen Rushdie, weil dieser im Roman «Die satanischen Verse» den Propheten Mohammed verunglimpft haben soll.
Vielfach wird Rushdie nur deswegen wahrgenommen. Tatsächlich gehört er jedoch zu den führenden angelsächsischen Autoren; sein Roman «Mitternachtskinder» wurde mit dem Booker Prize ausgezeichnet. Die Geschichte handelt von den Schicksalen der Kinder, die 1948 in der Nacht von Indiens Unabhängigkeit geboren wurden.
Die Geschichte zieht sich über Generationen
In «Victory City» wurde die Protagonistin als Kind Zeugin einer Witwenverbrennung, bei der auch ihre Mutter starb. Eine Göttin erkürt das traumatisierte Mädchen, die Stadt Bisnaga zu gründen, in der die Menschen ihr Glück finden sollen. Doch schon der Beginn dieses Abenteuers ist für Pampa Kampana schmerzhaft: Ein hinduistischer Weiser missbraucht sie. Das Motiv der trügerischen Religion durchzieht den Roman. Immer wieder liegen sich Andersgläubige in den Haaren, die Hindus gegen die Beschnittenen und umgekehrt.
Zu allem Elend tauchen die «rosa Affen» auf und machen den Einheimischen das Leben schwer. Pampa Kampana verliebt sich indes in Zugelaufene – die Liebe kennt keine ideologischen Grenzen. Ihr gefallen Portugiesen auf ihren indischen Kolonialreisen. Solche und weitere Episoden ziehen sich mit unzähligen Protagonisten über Generationen: Pampa Kampana wird 247 Jahre alt, mit ihrem Hinschied sind auch Bisnagas Tage gezählt. Die Protagonistin lernt doch noch ein märchenhaftes Paradies kennen, wenn auch nur im Exil, in das sie sich verzieht: «Im Wald verloren die Regeln der Welt an Bedeutung und lösten sich auf.
Furcht war etwas, das sich beherrschen liess. Begierden waren da, um sie zu erfüllen.» An diesen merkwürdigen Ort zog sie sich mit ihren widerspenstigen Töchtern zeitweilig zurück, wenn sie aus dem verkommenen Bisnaga flüchten musste. Ihre Rückkehr ist zuerst glorreich, aber der Untergang der Märchenstadt bleibt unaufhaltsam.
Buch
Salman Rushdie
Victory City
Aus dem Englischen von Bernhard Robben
414 Seiten (Penguin 2023)