Also nochmals vier Jahre Donald Trump. In «Amerika – Land der unbegrenzten Widersprüche», fünf Monate vor der US-amerikanischen Präsidentschaftswahl erschienen, nimmt Hubert Wetzel vorweg, wie es zu dem für viele Europäer überraschenden Ergebnis kommen konnte.
In kurzweiligen Kapiteln berichtet der langjährige USA-Korrespondent der «Süddeutschen Zeitung» von seinen Recherchen über Schusswaffen- und Drogenepidemie, Migration und politische Polarisierung. Er trifft auf schiesswütige Rancher, rechte Milizionäre, sozialkritische Countrymusiker, auf progressive und fanatische Pastoren.
Nüchtern und mit neutralem Blick
Anhand dieser Begegnungen skizziert er ein Stimmungsbild der US-Gesellschaft, zeigt die Zerrissenheit des Landes. Nüchtern und mit neutralem Blick analysiert er die Ursachen für die gesellschaftliche Spaltung. Er erklärt, ordnet ein und liefert Einblicke in die komplexen politischen Zusammenhänge. Obschon der Journalist, der mittlerweile in Brüssel lebt, die USA liebt, weiss er, dass es auch «ein Land mit tiefen, zappendusteren Abgründen» ist.
Ein wütendes Plädoyer entlarvt die Ausbeutung
Auf die wachsende soziale Kluft, die sich in vielen US-Städten an der hohen Zahl von Zeltlagern erwerbstätiger Obdachloser zeigt, macht Matthew Desmond in seinem US-Bestseller «Armut – Eine amerikanische Katastrophe» eindringlich aufmerksam.
In seinem wütenden Plädoyer prangert der Pulitzer-Preisträger die «unverständliche und unverschämte Ungleichheit» im reichsten Land der Welt an. Er beschreibt die Mechanismen hinter der neuen «Bedienstetenwirtschaft mit ihren anonymen und unterbezahlten Knechten», entlarvt die Ausbeutung von Menschen und zeigt auf, wie andere davon profitieren.
Schonungslos erklärt er die «Nebenerscheinungen» von Armut: körperliche Schmerzen, Gewalt, chronischer Stress und nicht zuletzt den «Verlust von Freiheit», die Basis des trügerischen US-Traums. Seine Beobachtungen unterlegt der Soziologe mit wissenschaftlich fundierten, mitunter erschlagenden Daten.
Desmond, selbst in prekären Verhältnissen aufgewachsen und heute Professor für Soziologie an der Universität Princeton, nimmt das US-amerikanische Sozialsystem auseinander, kritisiert den inhärenten Rassismus und entkräftet das gängige Klischee, dass arme Menschen selbst Schuld an ihrer Misere seien.
Unermessliches Leid, poetische Sprache
Nicht nur die Gegenwart, auch die Vergangenheit der USA ist geprägt von erschütternder Ungerechtigkeit. In ihrem Roman «So gehn wir denn hinab» arbeitet Jesmyn Ward das wohl dunkelste Kapitel der US-Geschichte auf: die Sklaverei. Arese, genannt Annis, wird als Kind von ihrem eigenen Vater, einem Plantagenbesitzer, der ihre Mutter vergewaltigte, verkauft.
Nach einem beschwerlichen Marsch, auf dem die aneinandergefesselten Sklaven reissende Flüsse und lebensbedrohliche Sümpfe durchqueren und ihre Notdurft wie Pferde im Gehen verrichten müssen, landet Annis auf dem Sklavenmarkt in New Orleans. Die versklavten Menschen, gefangen in einer erbarmungslosen «Mühle aus Arbeit, Hunger und unruhigem, flüchtigem Schlaf», essen in ihrer Not Tierfutter, während sie selbst wie Vieh behandelt werden.
Selten wurde das unfassbare Leid schwarzer Sklaven in den Südstaaten so drastisch und gleichzeitig poetisch beschrieben. Als literarische Vorlage diente Jesmyn Ward, die englische Literatur an der Tulane University in New Orleans lehrt, Dantes «Inferno». Die zweifache National-Book-Award-Preisträgerin macht die höllischen Qualen spürbar, beschreibt das unermessliche Leid sehr detailreich.
Eindrücklich schildert sie, wie die traumatisierten Menschen in dieser gnadenlosen Welt mit Trauer, Verlust und Einsamkeit umgehen, aber auch, wie sie an Resilienz gewinnen. Ähnlich wie Ta-Nehisi Coates in «Der Wassertänzer» baut sie surrealistische Elemente ein. So findet Annis Zuflucht in einer Geisterwelt, in der Natur, in Geschichten und Erinnerungen ihrer Ahnen. Daraus schöpft sie schliesslich die nötige Stärke, um sich zu befreien.
Im finsteren Herzen der Vereinigten Staaten
Eine weitere Seite Amerikas zeigt Dizz Tate in ihrem zeitgemässen Debütroman «Wir, wir, wir». Leila, Britney, die Schwestern Jody und Hazel, Isabel und Christian, eine Gruppe gelangweilter 13-Jähriger, von ihren Müttern manchmal als «Monster» bezeichnet, verschmelzen aus Angst vor dem Alleinsein zu einem einheitlichen Wesen, einem «Wir», aus dessen Sicht der Roman erzählt wird.
Als Sammy Liu-Lou verschwindet, ein älteres, an der Schule beliebtes Mädchen, das die Clique heimlich anhimmelt, gerät das fragile Zusammengehörigkeitskonstrukt ins Wanken. Die diffuse Horrorgeschichte, die die Scheinheiligkeit des US-Traums trotzig in Tristesse verwandelt, spielt in einem fiktiven Ort in Florida. Hier, umgeben von Freizeitparks, gigantischen Mall-Parkplätzen und einem sumpfigen See, lauert etwas Bedrohliches.
«Wir, wir, wir» ist wie ein angekohlter Pastelltraum, voller verstörender, aber treffender Bilder. Tates Amerika stinkt nach mikrowellenverschmortem Plastik, Lufterfrischer und heissem Öl. Wie ihre Protagonistinnen verfügt die Autorin über eine messerscharfe Beobachtungsgabe, mit der sie trotz der vage bleibenden Handlung mitten ins finstere Herz des modernen Amerikas trifft.
Hubert Wetzel
Amerika – Land
der unbegrenzten
Widersprüche
256 Seiten
(Goldmann 2024)
Matthew Desmond
Armut
Aus dem Amerikanischen
von Jürgen Neubauer,
304 Seiten
(Rowohlt Polaris
2024)
Jesmyn Ward
So gehn wir denn
hinab
Aus dem Amerikanischen
von Ulrike Becker
304 S. (Antje
Kunstmann 2024)
Dizz Tate
Wir, wir, wir
Aus dem Amerikanischen
von Heike Reissig
256 Seiten
(Ecco 2023)