Ganz unter uns: Wie viele Stunden haben Sie heute an Ihrem Handy verbracht? Wie oft haben Sie Ihre E-Mails gecheckt, die neusten Facebook-Einträge Ihrer Freunde kommentiert oder Bilder auf Instagram hochgeladen? Der leuchtende Smartphone-Bildschirm verbindet uns mit der ganzen Welt. In der Netflix-Doku «Das Dilemma mit den sozialen Medien» erklären Branchenkenner, darunter ehemalige Mitarbeiter der mächtigsten Digitalunternehmen, was sich auf der anderen Seite der kleinen Monitore abspielt.
Denn die vermeintlich kostenlosen Angebote bezahlen wir mit unseren Daten. Wertungssymbole wie Herzchen oder Daumen werden zur Währung. Jeder Klick wird registriert: Wie lange wir welche Bilder ansehen, welche Bücher wir lesen, welches Shampoo wir kaufen. Unsere Interessen werden analysiert, die Daten gesammelt und zu Werbezwecken verkauft.
Wir selbst werden zum Produkt
Es ist ein Ökosystem, «das auf der Ausbeutung von Aufmerksamkeit und der Monetarisierung des Ichs basiert», ist Jia Tolentino überzeugt. Die 32-Jährige muss es wissen. Denn sie selbst profitiert davon. Die Journalistin, die das Internet als «fieberhafte, elektronische, unerträgliche Hölle» bezeichnet und gleichzeitig ihren Alltag auf der Foto-Plattform Instagram dokumentiert, befasst sich in ihrem Buch «Trick Mirror» mit den Begleiterscheinungen der Digitalisierung.
In neun anregenden Essays reflektiert sie unsere Besessenheit mit dem World Wide Web und entlarvt die durch permanente Selbstoptimierung und narzisstische Selbstdarstellung befeuerte Selbsttäuschung. Der Essayband ist ein regelrechter Rundumschlag und reicht von Facebook- und Kapitalismus-Kritik über scheinheiligen Mainstream-Feminismus bis hin zum Klimawandel. Auch wenn Tolentino sich streckenweise selbst in der Unübersichtlichkeit der digitalen Welt verliert und keine konkreten Antworten liefert, macht sie die Überforderung nachvollziehbar und weist beiläufig auf demokratiegefährdende Tendenzen hin.
Denn durch die Verbreitung von Falschnachrichten können Medien wie Facebook auch Meinungen manipulieren und sogar Wahlen beeinflussen, gibt Tolentino zu Bedenken. Befeuert durch die personalisierten Inhalte, sieht jeder Nutzer, isoliert in seiner Filterblase, die Welt durch seine eigene Wirklichkeitsbrille. Dadurch entfremden wir uns voneinander, und das führt zum «Ende einer gemeinsamen gesellschaftlichen Realität», meint die Autorin.
Verhärtete Fronten verhindern Offenheit
Eine ähnliche These formuliert auch Bernd Stegemann in seiner systemtheoretischen Analyse «Die Öffentlichkeit und ihre Feinde». «Niemand ist mehr Teil eines grösseren Zusammenhangs», schreibt der Berliner Theaterdramaturg, «sondern jeder lebt in der Mikroumwelt seiner hochspezialisierten Existenz».
Es ist nicht nur ein tiefer Graben, der die moderne Gesellschaft spaltet und Demokratien schwächt, sondern ein ganzes Netz aus feinen Rissen. Stegemann nennt es das «Chaos der Bruchlinien». Zersplitterte Interessengruppen stehen sich unversöhnlich gegenüber, eine gemeinsame Wahrheit gebe es nicht. Aus Widersprüchen werde Widerstreit, unlösbare Konflikte also, die zunehmend eskalieren. Die Argumente der Gegenseite werden vor lauter Wut und Empörung gar nicht mehr gehört, ein Austausch findet nicht statt, und die zugrundeliegenden Probleme werden somit verschleiert.
Damit liefert Stegemann zwar einen wichtigen Ansatz für eine neue Debattenkultur, schlägt sich dabei aber selbst auf eine Seite. Der prominente Kritiker identitätspolitischer Strömungen unterstellt solchen Gruppierungen, Offenheit zu verhindern. Sie würden je nach Kontext von ihrer Identität profitieren. Dass marginalisierte Gruppen jahrzehntelang unter den Konventionen der Mehrheitsgesellschaft litten, blendet er aus.
Gefährdet Netflix die Demokratie?
Zumindest in dem Punkt, dass der radikale Individualismus durch sogenannte soziale Medien beschleunigt wird, stimmt er mit Tolentino überein. Auch die unterhaltsam aufbereitete Netflix-Dok bekräftigt diese Entwicklung. Das Problem: Der Streaming-Riese klammert sich im Film selbst aus. Dabei geht es auch bei dem beliebten Serienportal um Profit. Der Kunde ist nicht König, sondern wird zum Sklaven seiner Bedürfnisse gemacht, wie es Marcus S. Kleiner im Sachbuch «Streamland» formuliert. Ausschweifend und in teilweise schulmeisterlichem Ton beschreibt der Professor für Medien- und Kommunikationswissenschaft die Mechanismen von Netflix, Amazon Prime Video und Co.
«Soziale Netzwerke binden, ohne zu verbinden», bringt er Tolentinos Thesen auf den Punkt. Ähnlich wie bei Facebook schlagen Algorithmen auch dem Netflix-Abonnenten personalisierte Inhalte vor, mit dem Ziel, ein hohes Konsumverlangen zu erzeugen. Dabei stellt Kleiner die Kunden als passive Konsumenten ohne eigenvermögendes Denken dar, die fraglos den Empfehlungen einer künstlichen Intelligenz folgen. Streaming-Dienste tragen seiner Ansicht nach wesentlich zur Selbstentmündigung bei und sind damit ebenfalls demokratiegefährdend.
Düstere Aussichten für die Nutzer
Werden wir alle, wie Kleiner dystopisch orakelt, als «inhumane manipulierte Datenhaufen» enden? Einen Ausweg scheint es nicht zu geben. Selbst wenn man sich von digitalen Netzwerken abwendet, lebt man immer noch in einer Welt, die von ihnen geprägt wird. Demokratie lebt von Transparenz. Deshalb fordern immer mehr Experten umfassenden Einblick in das Geschäft mit unseren Daten und wollen die Plattformbetreiber rechtlich zur Verantwortung ziehen. Und vielleicht hören wir ab und zu auch auf Serientipps von realen Freunden – und legen das Handy öfter mal zur Seite.
Dok-Film
Das Dilemma mit den sozialen Medien
Regie: Jeff Orlowski, USA 2020 Netflix
Sachbücher
Jia Tolentino
Trick Mirror – Über das inszenierte Ich
Aus dem amerik. Engl.
von Margarita Ruppel
363 Seiten (S. Fischer 2021)
Bernd Stegemann
Die Öffentlichkeit und ihre Feinde
384 Seiten
(Klett-Cotta 2021)
Marcus S. Kleiner
Streamland – Wie Netflix, Amazon Prime und Co. unsere Demokratie bedrohen
303 Seiten
(Droemer Knaur 2020)