Was braucht es für ein erfülltes Leben? Eine funktionierende Liebesbeziehung, Familiengründung, ein Haus auf dem Land? Diese Frage stellt sich der 44-jährige deutsche Autor Daniel Schreiber im Buch «Allein» und kommt zum ernüchternden Schluss, dass es sich dabei um ein «Fantasiekonstrukt eines guten Lebens» handelt: «Ein Versprechen, das sich für viele von uns nicht einlösen lässt.» Denn Fakt ist: Immer mehr Menschen leben – aus Überzeugung oder ungewollt – allein. Und in Zeiten von Pandemie und sozialer Isolation kann das Alleinleben bei vielen Menschen in eine existenzielle Einsamkeit kippen.
Langjährige Freunde als Stützen in unsteten Zeiten
Diese Einsamkeit hat auch Daniel Schreiber verspürt: Als allein lebender, schwuler Mann hat ihn die Pandemie trotz grossem Freundeskreis auf sich selbst zurückgeworfen. In seinem Buch umkreist er das Spannungsverhältnis zwischen dem Wunsch nach Freiheit und Ungebundenheit einerseits, nach Geborgenheit und Aufgehoben.sein in einer Gemeinschaft andererseits. In persönlichen Passagen berichtet er von seinen Erfahrungen mit dem Alleinsein und schlägt elegant den Bogen zu Ideen aus Philosophie, Psychoanalyse, Kulturgeschichte und Soziologie. Diese Verschränkung von Privatem und Gesellschaftspolitischem hat er schon in seinen vorherigen Büchern mit Erfolg erprobt: In «Nüchtern» befasste er sich mit dem Stellenwert von Alkohol in der Gesellschaft, und in «Zuhause» begab er sich auf die «Suche nach dem Ort, an dem wir leben wollen». Auch in «Allein» berührt er durch seine Offenheit, geht aber über das persönliche Empfinden hinaus und öffnet einen Raum für eigene Gedanken.
Die Bedeutung von Freundschaften nimmt in seinem Buch eine wichtige Rolle ein. Gerade langjährige Freunde, mit denen man Höhen und Tiefen durch-lebt hat, sind Stützen in unsteten Zeiten und erinnern uns daran, wer wir sind und wer wir waren, hält er fest. Schreiber hinterfragt aber auch die Idealisierung von Freundschaft, wie sie in der Erbauungsliteratur oder in Serien wie «Friends» zelebriert wird.
Der Autor findet seine eigenen Methoden, das Alleinsein so zu gestalten, dass es bereichernd ist. Während einer Literatur-Residenz in Luzern etwa entdeckt er das Wandern und die Kraft der Natur. Und er macht sich den Kopf wieder frei für die Gewissheit, «dass ich vielleicht kein konventionelles gutes, aber ein erfülltes, ein spannendes Leben führe, ein Leben voll anderer Arten des Wohlstands und der Liebe».
Buch
Daniel Schreiber
Allein
160 Seiten
(Hanser Berlin 2021)
Weitere Büchertipps zum Thema Alleinsein
Noreena Hertz
Das Zeitalter der Einsamkeit – Über die Kraft der Verbindung in einer zerfaserten Welt
Aus dem Englischen von
Sabrina Sandmann und Andrea Schmittmann
448 Seiten (Harper Collins 2021)
Die britische Ökonomin und Intellektuelle Noreena Hertz forscht seit langem zum Thema Einsamkeit. Exzessiver Handy- und Social-Media-Konsum und rücksichtsloser Neoliberalismus führen laut ihrer These zu einer globalen Einsamkeitskrise. Im Buch zieht sie eine düstere Bilanz, macht aber gleichzeitig Hoffnung: «Wir leben zwar in einem Zeitalter der Einsamkeit, aber das muss nicht so bleiben.» Die Stärkung von Empathie und Gemeinschaft sieht sie als Weg aus der Einsamkeit.
Rüdiger Safranski
Einzeln sein – eine philosophische Herausforderung
288 Seiten (Hanser 2021)
Der deutsche Philosoph Rüdiger Safranski fokussiert in seinem Buch weniger auf die Einsamkeit, sondern geht dem Individualismus von der Renais-sance bis in die Gegenwart nach. Er zeigt, wie sich Denkerinnen und Dichter der Herausforderung des «Einzeln-Seins» gestellt und in der Abgeschiedenheit ihre Ideen entwickelt haben – von Martin Luther bis Hannah Arendt.
Fünf Fragen an Daniel Schreiber
«Wir sind nicht dafür gemacht, einsam zu sein»
kulturtipp: Was hat Sie dazu bewogen, Ihr Buch «Allein» zu schreiben und auch sehr persönliche Gedanken mit uns Lesern zu teilen?
Daniel Schreiber: «Allein» ist aus dem Bedürfnis entstanden, darüber nachzudenken, ob es möglich ist, auch ohne eine Liebesbeziehung ein erfülltes Leben zu führen. Es ist ein Buch über das Geschenk und die Grenzen von Freundschaften, über Einsamkeit, den Abschied von Lebensträumen und über die Frage, wie man mit unlösbaren Problemen leben kann. Und wie man mit der Unsicherheit umgeht, die das Leben auf diesem Planeten immer mehr bestimmt. Es ist ein Buch über Zuversicht. Auch wenn ich von mir schreibe, geht es nicht um mich. Vielmehr möchte ich den Lesern ermöglichen, sich und ihr Leben neu und anders zu befragen und etwas durchzuarbeiten.
Wo sehen Sie den Unterschied zwischen Alleinsein und Einsamkeit?
Beide Begriffe umschreiben eine Bandbreite an Gefühlszuständen. Menschen beschreiben zum Beispiel das Gefühl des Nichtgesehenwerdens vom eigenen Partner als Einsamkeit – oder auch das Gefühl, sich in Gruppen nicht verbunden zu fühlen. Ich versuche, diese Zustände deutlicher voneinander abzugrenzen. Allein leben heisst für mich: ohne eine romantische Beziehung zu leben. Das heisst natürlich nicht, dass man ein Leben ohne Familie oder Freundschaften führt. Alleinsein kann man gestalten, Einsamkeit hingegen lässt sich nicht gestalten.
Warum wird in unserer Gesellschaft das Alleinsein als Scheitern wahrgenommen?
Das Paar und die Kernfamilie gelten in unserer Gesellschaft als die wichtigsten Formen des Zusammenlebens, alles andere ist zweitranging. Das haben die meisten von uns verinnerlicht, selbst wenn wir allein leben. Wenn wir uns ein glückliches Leben vorstellen, dann gehört eine Liebesbeziehung dazu. Dahinter steckt die grosse Erzählung der romantischen Liebe, diese Konstruktion von Liebes- und Familienglück, die ein Bedürfnis anspricht, das wir alle haben: nicht allein auf der Welt zu sein. Wir haben ja in den vergangenen Jahrzehnten erlebt, wie sich die Formen der Liebe verändert haben. Es gibt mehr Scheidungen, Beziehungen werden kürzer, anfälliger für Konflikte. Soziologinnen wie Eva Illouz haben solche Entwicklungen, etwa Dating-Apps oder die Warenwerdung unserer Körper, untersucht. Als Alleinlebender kann man sich fragen: Welche Vorstellungen von der Liebe sind wirklich meine eigenen, welche kommen von woanders her?
Bisher war die Einsamkeit ein eher schambehaftetes Thema. Hat sich das durch die Pandemie, in der viel über die Einsamkeit der Menschen im Lockdown diskutiert wurde, verändert?
Ja, ich glaube, wir können jetzt etwas offener über Einsamkeit sprechen. Und das ist alles andere als einfach. Wie bei vielen Menschen, die allein leben, ging die Pandemie für mich mit Erfahrungen grosser Einsamkeit einher. In «Allein» wollte ich zeigen, warum es so schwer ist, damit umzugehen. Wir sind nicht dafür gemacht, einsam zu sein. Psychologinnen wie Frieda Fromm-Reichmann, Robert Weiss oder Melanie Klein haben dargestellt, dass automatisch eine Reihe von Abwehr- und Vermeidungsmechanismen einsetzen, wenn wir mit Einsamkeit konfrontiert werden – sei es unsere eigene oder die anderer Menschen.
Nebst der traditionellen Kernfamilie gibt es heutzutage unterschiedliche Lebensmodelle, die Geborgenheit bieten. Welchen Stellenwert haben Freundschaften?
Für viele von uns sind Freundschaften die beständigsten und befriedigendsten Beziehungen in unserem Leben. Sie können dabei helfen, seelischen Nöten, Enttäuschungen und Verlusten zu begegnen. Dennoch ist mir ein gewisser Abstand zum oft überzogenen Lob der Freundschaft wichtig. Dieser populärkulturellen Idealisierung von Freundschaft begegnen wir immer mehr: Die beste Freundin, die uns in allem versteht, immer für uns da ist. Diese Fantasie ist so schön, dass wir gerne daran festhalten. Aber wenn wir diese auch nur halbwegs realistisch anschauen, dann merken wir, dass das so nicht der Fall ist. Auch wenn ich meine Freunde und Freundinnen sehr liebe, gehören Konflikte dazu. Wenn wir die beschriebene Fiktion über unsere wirklichen Freundschafts Beziehungen legen, verpassen wir die eigentliche Begegnung mit diesen Menschen, mit ihrer Andersartigkeit mit dem, was sie als Menschen ausmacht.