Der ehemalige Bundeskanzler Willy Brandt täuschte sich seinerzeit gründlich: «Jetzt sind wir in einer Situation, in der wieder zusammenwächst, was zusammengehört.» Das tatsächliche Lebensgefühl im November 1989 war jedoch vielschichtig, liess sich nur diffus in Worte fassen. «Der ausgekippte Zustand, die rahmenlose Zeit. Was ist man in diesem Nichtmehr und Nochnicht?», fragt die Schriftstellerin Ines Geipel in ihrem neuen Buch «Fabelland».
Sie hat unter diesem Titel ihre ebenso feinfühligen wie messerscharfen Gedanken über Deutschland nach dem Mauerfall niedergeschrieben. Mit der Lektüre bleibt der Eindruck, dass dieses Land über die nächsten Generationen gespalten bleiben wird.
Geipels Karriere wird in der DDR zunichte gemacht
Die ehemalige Spitzenathletin und heutige Hochschuldozentin Geipel fiel den damaligen DDR-Funktionären als unbotmässig auf und musste sich einer angeblichen Blinddarmoperation unterziehen. Dabei durchschnitten ihr die Ärzte die Bauchmuskeln, damit sie nach einer «Republikflucht» im Westen nicht mehr als Sprinterin starten konnte. Auch ihre Herkunft dokumentiert deutsche Zeitgeschichte: Die beiden Grossväter waren SS-Mitglieder, ihr Vater ein Stasispion im Westen. Davon erfuhr die Tochter allerdings erst 14 Jahre nach der Wende.
«Fabelland» beginnt mit der Zeit unmittelbar vor dem Ende der DDR. Geipel war im August 1989 von Jena über Ungarn in den Westen geflüchtet und arbeitete als Kellnerin in Darmstadt. Noch immer erinnert sie sich an die Euphorie, die sie nach dem Mauerfall erlebte.
Diese Zeit ist für die Generation der 1960 geborenen Autorin nicht einfach Geschichte, vieles ist bis heute ungeklärt: «Was ist noch Altland, was schon Neuland? Gibt es etwas, das zwischen Alt und Neu übrig geblieben ist oder dazukam oder verloren gegangen ist?», fragt sie. Solche Erkundungen machen das Buch so lesenswert. Man spürt, wie sie um Antworten ringt, denen sie sogleich misstraut, vielleicht, weil «die Wörter von vornherein so viel Unklares mit sich schleppen.»
Die Verklärung der DDR entwickelt sich
Schon bald wich die Aufregung der Ossis der Ernüchterung. Die Gegensätze zwischen Ost und West wurden unübersehbar. Bereits im Sommer nach der Wende waren Ressentiments verbreitet: «Es gab Berichte im Osten von vermeintlichen Altnazis, die in ihren dicken Schlitten aus Würzburg und Köln angerauscht kamen, um Häuser, Villen, Fabriken einzusacken.» Aus dieser Denkart entwickelte sich die Verklärung der DDR-Zeiten, die Diktatur wurde als fürsorglicher Gegenentwurf zum westlichen Kapitalismus verstanden.
Geipel schlägt einen direkten Bogen von den stalinistischen Funktionären sowjetischer Prägung über Putin bis zur AfD und zum Bündnis Sahra Wagenknecht. Angesichts der gesellschaftspolitischen Abgründe in Geipels Reminiszenzen wird aus Schweizer Sicht verständlich, weshalb die politische Auseinandersetzung in Deutschland in dieser Schärfe geführt wird.
Ines Geipel
Fabelland – Der Osten, der Westen, der Zorn und das Glück
310 Seiten
(S. Fischer 2024)