Nach langem Zögern hat sich Stephen kurz vor Mitternacht doch auf den Weg gemacht, von Harrodsburg in Kentucky nach Washington. Der Platz beim Washington Monument ist rappelvoll an diesem 6. Januar 2021, er sieht nichts von der Bühne, auf der Donald Trump reden soll.
Also zieht er mit anderen zusammen weiter, zum Kapitol. Folgt jenen, die auf der Rückseite eine erste Abschrankung überwinden, drückt mit der stetig wachsenden Menge gegen eine zweite.
Eine Polizistin stürzt und bleibt bewusstlos liegen, mit zwei anderen Polizisten gerät er in eine Rangelei – und entfernt sich wieder von der wütenden Menge.
Eine Latina, ein Trump-Fan und ein Trump-Gegner
Am Nachmittag trifft Stephen auf die Journalistin Kerstin Kohlenberg. In ihrem Buch «Das amerikanische Versprechen – Vom Streben nach Glück in einem zerstrittenen Land» wird sie ihn zu einem von drei Protagonisten machen.
2014 ist sie als Korrespondentin der deutschen «Zeit» in die USA gekommen. Als sie im Spätsommer 2021 abreist, hat ein grosser Teil der Menschen den Glauben an die zentrale Institution der US-amerikanischen Demokratie verloren: an freie und faire Wahlen.
Was ist passiert? Auf der Suche nach Antworten ist Kohlenberg zu den Menschen gefahren. «Ich wollte ihre Vergangenheit kennenlernen und ihren Blick auf Amerika, ihre persönliche Erfahrung nachvollziehen, um auch die Fehler zu verstehen, die die Politik gemacht hat», schreibt sie.
Ihre Langzeitbeobachtung dreier unterschiedlicher Lebensgeschichten verknüpft geschickt das Persönliche mit dem Politischen: Nebst dem Kapitolstürmer Stephen hat Kohlenberg die Latina Magali und den Black-Lives-Matter-Aktivisten Walter (der sich später Hawk nennt, Falke) porträtiert.
Die 1991 geborene Magali ist als Kind illegaler Einwanderer von Mexiko nach Denison, Iowa, gekommen, einem Zentrum der Fleischverarbeitung. Vor allem die Mutter ist eine ungemein fleissige Person, diskriminierende Bemerkungen überhört sie einfach.
Die Tochter tickt ähnlich, mit zäher Energie arbeitet Magali sich nach oben, wird zur leitenden Angestellten und Mutter. Ihr Haus steht im Viertel der Weissen. Doch während Magali in die Mittelklasse aufsteigt, schwenken die Republikaner um, werden von einer wirtschaftsfreundlichen zu einer einwanderungsfeindlichen Partei.
Ein Präsident wie ein Stand-up-Comedian
Im New Yorker Stadtteil Bronx träumt derweil der gross gewachsene Walter von einer Karriere als Basketballspieler, später von einer als Strafverteidiger, bis er in den Auseinandersetzungen um Polizeigewalt sein Talent als Aktivist entdeckt.
Er ist wie geboren für den Strassenkampf und für den Kampf gegen Donald Trump, den er für brandgefährlich hält. Die Anhänger von Trump sind krisengebeutelte Menschen, so wie Stephen, der sich gern auf der Online-Plattform Youtube ablenkt.
Dort schaut er sich die Veranstaltungen Trumps an, weil der als eine Art Stand-up-Comedian der erste Präsident ist, der nicht auf ihn herabschaut. Ein paar Monate nach dem Sturm auf das Kapitol verhaftet das FBI Stephen. Ein Gericht verurteilt ihn im September 2024 zu einer Gefängnisstrafe von acht Jahren.
Buch
Kerstin Kohlenberg
Das amerikanische Versprechen – Vom Streben nach Glück in einem zerstrittenen Land
341 Seiten
(Tropen 2024)