Karl Fankhauser stirbt, weil er Radio Beromünster gehört haben soll. Die Nationalsozialisten verhaften den Auslandschweizer 1943 in der Nähe von Stuttgart. Sieben Monate später ist der Vater von drei Kindern tot, umgekommen im KZ Flossenbürg. Margrit Barth stirbt, weil sie einen Belgier geheiratet hat und dadurch ihren Schweizer Pass verliert. Die Schweizer Behörden verweigern ihr zweimal die Einreise, obwohl ihre jüdische Familie in Zürich wohnt. Sie wird in Auschwitz ermordet. Albert Mülli überlebt das KZ Dachau, weil er als Sanitärmonteur gebraucht wird. Die Gestapo verhaftet den 22-jährigen Sozialdemokraten 1938, weil er kommunistische Flugblätter ins Dritte Reich geschmuggelt hat. Als er nach Kriegsende traumatisiert in die Schweiz zurückkehrt, fordern ihn die Behörden auf, sechs Jahre Militärsteuer nachzuzahlen.
Ein düsteres Kapitel Schweizer Geschichte
391 Schweizerinnen und Schwei-zer waren in den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten inhaftiert. 201 von ihnen überlebten die Misshandlungen nachweislich nicht. Sie waren angebliche Regimefeinde, Résistancekämpferinnen, Juden, Zeugen Jehovas, Homosexuelle, die im besetzen Europa gelebt haben, die meisten in Frankreich. Sie wurden vergessene Opfer des Dritten Reichs, deren Schicksal die Schweiz nie anerkannt hat.
Vier Jahre haben die Journalisten Balz Spörri, René Staubli und Benno Tuchschmid in Archiven gewühlt, Nachkommen befragt, Exceltabellen angelegt. Mit «Die Schweizer KZ-Häftlinge» präsentieren sie nun ein Buch, das erstmals genaue Opferzahlen vorlegt. «Die grösste Recherche meines Lebens», sagt der ehemalige «Tages-Anzeiger»-Reporter Staubli. Die Autoren geben allen 391 Schweizer KZ-Häftlingen einen Namen und wenn möglich ein Gesicht. Sie erzählen nüchtern ihr Leid und rekonstruieren sorgfältig ein düsteres Kapitel Schweizer Geschichte. Das Sachbuch ist ohne Polemik verfasst, aber anklagend.
Die Schweizer Regierungsstellen wussten laut den Autoren viel über die Nazigräuel, machten aber oft wenig, um die eigenen Staatsbürger vor dem Tod im Konzentrationslager zu bewahren. «Die Schweiz hätte Dutzende Leben retten können, wenn sie sich mutiger und mit Nachdruck für die Schweizer KZ-Häftlinge eingesetzt hätte», lautet das Fazit.
Desinteresse gegenüber den Opfern
Die offizielle Schweiz behandelte die eigenen Naziopfer lange als Bürger zweiter Klasse. Das Schweizer Justizdepartement wehrte sich 1941 gegen die Einreise von 70 Schweizer Behinderten, weil «die Krüppel» Kosten verursachen würden. Das Schweizer Aussendepartement forderte 1943, möglichst wenig Schweizer Juden aus Frankreich heimzuschaffen, weil sich «unerwünschte Elemente» darunter befinden könnten. Erst ab 1944 versuchten die Behörden, bestimmte Schweizer KZ-Häftlinge durch Verhandlungen aus den Lagern freizubekommen. Erfolglos. Nach dem Krieg belog der Bundesrat die Öffentlichkeit, schreiben die Autoren. Um sein Desinteresse gegenüber den Opfern sowie seine anbiedernde Zurückhaltung gegenüber dem Naziregime zu kaschieren, die einigen Schweizer KZ-Häftlingen das Leben gekostet hat. Der Bundesrat weigerte sich, die Überlebenden zu empfangen. Als Nazigegner blieben sie der neutralen Schweiz selbst nach dem Krieg suspekt. Das Buch will den Opfern jene Gedenkstätte sein, die es in der Schweiz bis heute nicht gibt.
Buch
Balz Spörri, René Staubli, BennoTuchschmid
Die Schweizer KZ-Häftlinge. Vergessene Opfer des Dritten Reichs
320 Seiten
(NZZ Libro 2019)