Er interviewte den deutschen Bundeskanzler Helmut Kohl. In einer Expertenkommission überzeugte er vor 30 Jahren die britische Premierministerin Margaret Thatcher von der deutschen Einheit. Mit Václav Havel, dem Präsidenten der Tschechoslowakei, war er befreundet. Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán war in Oxford sein Student.
Und nun legt der 67-jährige Historiker, Zeitzeuge und Bestsellerautor Timothy Garton Ash mit «Europa – Eine persönliche Geschichte» ein neues, mitreissendes Werk vor. Darin zeichnet der Brite nach, wie sich Europa und die Europäische Union nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelt haben. Sein Buch ist eine Rückblende auf all das, was auf dem Kontinent erreicht wurde und was gescheitert ist, und es zeigt auf, wo die aktuellen Probleme liegen.
Europa ist für ihn eine Familienangelegenheit
Denn einfach war die Geburt Europas nicht. Es begann mit vielerlei Hoffnungen, bald aber herrschte Krieg. «Es war europäische Barbarei, von Europäern begangen an Europäern – und oft im Namen Europas. Man kann erst dann ansatzweise verstehen, was Europa seit 1945 zu tun versucht hat, wenn man von dieser Hölle weiss», schreibt Ash in seinem neuen Buch.
«Europa» ist ein kluges Buch, kurzweilig und trotz der Komplexität des Themas unterhaltsam zu lesen. Besonders spannend dürfte das Werk für junge Leserinnen und Leser sein, welche die Geschichte nur aus den Nachrichten kennen. Das liegt auch daran, dass sich Ash seinem Thema wie ein Journalist widmet: Zwischen persönliche Erlebnisse und Anekdoten von seiner eigenen Familie bettet er analytische Abschnitte ein.
Wer sich Ashs Biografie anschaut, erkennt rasch: Europa ist für ihn nicht nur ein Forschungsthema, sondern auch eine Familienangelegenheit. Sein Vater landete als Soldat beim sogenannten D-Day am Strand der Normandie.
Das Ende des Krieges erlebte der Vater in einem niedersächsischen Dorf. Ash, Professor für europäische Studien an der Universität Oxford, forschte in zahlreichen Ländern jenseits des Eisernen Vorhangs. So wurde er zu einem Chronisten des demokratischen Aufbruchs in den 1980er-Jahren.
Sein 2019 auf Deutsch erschienenes Buch «Ein Jahrhundert wird abgewählt» ist mittlerweile ein Standardwerk. «Identität ist eine Mischung aus den Karten, die wir bekommen haben, und dem, was wir daraus machen», schreibt Ash, der selbst überzeugter Europäer ist.
Bis zum Brexit und zum Ukraine-Krieg
Sein Buch «Europa» reicht bis in die Gegenwart. Neben dem Flüchtlingsdrama 2015 und dem Brexit 2020 greift er natürlich auch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine auf. Zu diesem sagt er in einem Interview mit dem «Spiegel»: «2022 ist für die Ukraine, was 1940 für die Briten war. Grossbritannien stand allein gegen Hitler.
Es war ein traumatisches Jahr, aber auch ein Jahr grosser nationaler Solidarität und eine Quelle von Stolz.» Als das Buch Ende 2022 in den Druck geht, ist noch offen, wie der Konflikt ausgehen wird. «Mit ihrer ‹volya›, ihrem Willen zur Freiheit, schreiben die Ukrainer ein aussergewöhnliches neues Kapitel der europäischen Geschichte», resümiert Ash.
Buch:
Timothy Garton Ash Europa Aus dem Englischen von Andreas Wirthensohn
448 Seiten (Hanser 2023)