Im Jahr 2008 führte Oppositionsführer Viktor Orbán ein vertrauliches Gespräch mit der US-amerikanischen Botschafterin. Er erklärte ihr, wie er die Wahlen 2010 gewinnen würde: «Es ist nicht kompliziert. Den Menschen sagen wir, dass wir die Grösse der Nation wiederherstellen, und den Wirtschaftsbeteiligten das, was sie von der Fidesz-Regierung erwarten können.» Der Plan ging auf. Die Partei Fidesz löste die acht Jahre lang regierenden Sozialisten ab. Und das war erst der Anfang. Bei den Wahlen Anfang April erhielt Orbán zum vierten Mal hintereinander eine Zweidrittelmehrheit.
Kaum noch unabhängige Medien
Der ungarische Autor und Historiker György Dalos analysiert in seinem Buch «Das System Orbán» in 20 Kapiteln, wie es dazu kam. Eine Erklärung liefert Bálint Magyar, Vorsitzender des nicht mehr existierenden Bundes Freier Demokraten. Ungarn sei ein «Mafiastaat», der die Korruption in den Rang der Staatspolitik erhoben habe. Die Getreuen des Paten Orbán hätten Ungarn in eine mitteleuropäische Camorra verwandelt.
Anders als in einer Diktatur laviert Orbán gemäss Dalos «in einem demokratischen, politischen Mehrparteiensystem». Das heisst, er braucht eine Wählerbasis. Praktisch alle regionalen Tageszeitungen gehören der «Mitteleuropäischen Presse- und Medienstiftung», einem Konstrukt von Orbán-Freunden. Sie sorgen dafür, dass die Blätter als Sprachrohr der Regierung fungieren. Das Gleiche gilt für Radio und Fernsehen. Die einzigen unabhängigen Informationskanäle sind News-Plattformen wie 444.hu und 24.hu. Sie erreichen vor allem ein junges, städtisches Publikum. Kein Wunder, holten die Oppositionsparteien bei den Wahlen vom April fast einen Drittel ihrer Sitze in Budapest. Hier hat Fidesz kein Brot.
Im Kapitel «Schlachtengemälde aus dem Kulturkampf» zeigt Dalos an einem anderen Beispiel, wie das «System Orbán» in die Köpfe der Ungarn eindringt. Ein Literaturmagazin hatte die Schriftstellerin Krisztina Tóth vor einem Jahr gefragt, welches Buch sie aus dem nationalen Lehrplan streichen würde. Sie nannte Jókai Mórs Roman «Ein Goldmensch» aus dem Jahr 1872. Mór gehört zum nationalen Erbe wie in Deutschland Schiller und Goethe. Tóth stiess sich an Jókais Frauenbild. Er stelle Frauen als unterwürfige Wesen dar. Das sei deshalb störend, weil «unsere Kinder aufgrund schulischer Lektüren ihre Vorstellungen über Geschlechterrollen» entwickelten.
Frauen bleibt nur eine marginale Rolle
Empörte Leser fluteten Tóths Facebook-Seite mit Hunderten von Einträgen mit obszönen Schimpftiraden und Drohungen. Regierungsnahe Zeitungen warfen ihr vor, sie ziehe eine nationale Lichtgestalt in den Dreck. «Ein Goldmensch» blieb aber Pflichtlektüre, anders als zum Beispiel der «Roman eines Schicksallosen». Das Werk des ungarischen Nobelpreisträgers Imre Kertész ist eines der wichtigsten literarischen Zeugnisse über den Holocaust. Der Lehrplan führt den Roman lediglich in der Kategorie «empfehlenswert».
Und auch Frauen bleibt im «System Orbán» nur eine marginale Rolle. Ihr Anteil im neu gewählten Parlament liegt wie auch die Jahre zuvor bei 13 Prozent. Zum Vergleich: In der Schweiz sind es 42 Prozent, in Schweden 47 Prozent.
Buch
György Dalos
Das System Orbán. Die autoritäre Verwandlung Ungarns
224 Seiten
(C.H. Beck 2022)