In den frühen Morgenstunden eines frostigen Januartags 1855 liegt der Leichnam von Gérard de Nerval in der Gosse der Rue de la Vieille-Lanterne im Quartier des Arcis. Der Lyriker ist heute vergessen, die Todesursache blieb ungeklärt. Wahrscheinlich nahm er sich das Leben. Jedenfalls stilisierten ihn die Zeitgenossen zu einem Modernisierungsopfer, zu einem, der mit den damals um sich greifenden Veränderungen des Stadtlebens nicht zurechtkam. Auch der Ort seiner letzten Stunde, die Gasse der alten Laterne, ist heute verschwunden. Sie musste der Avenue Victoria Platz machen, die dem kleinen Park Saint Jacques entlang zur Place du Châtelet führt.
Radikale Erneuerung des Stadtbildes
Die deutsche Romanistin Walburga Hülk stellt die 20 Jahre der Umwälzung im 19. Jahrhundert in ihrem neuen Buch «Der Rausch der Jahre» vor. Hülk belegt, wie in Paris globalisierter Handel, eine aufgeklärte Geisteswelt und die Wissenschaft zu dieser Manifestation des Fortschritts zusammenfanden.
Gérard de Nervals Tod illustriert eine der radikalsten Umwälzungen des modernen Städtebaus, der unter der Ägide des Autokraten Napoleon III. (1808–1873) und seines Adlaten Georges-Eugène Haussmann vonstatten ging. Mitte des 19. Jahrhunderts wurde das alte Paris abgerissen, das neue als eine Manifestation des aufstrebenden Bürgertums errichtet. Dieses wollte sich mit den grossartigen Boulevards der ganzen damaligen Welt als massgebliche Klasse darstellen.
Heute ist die verkehrsfreie Place du Châtelet ein Mittelpunkt des touristischen Paris mit einer Siegessäule, die an die militärischen Erfolge Napoelon I. erinnert: die Pyramiden, Austerlitz, Jena … Beim besten Willen kann sich der Besucher heute nicht mehr vorstellen, dass diese Gegend einst ein Slum war, bewohnt von Menschen, die wussten, dass sie von der Stadterneuerung nichts zu erwarten hatten. Allerdings – wie eine Reminiszenz an die Vergangenheit – treffen sich dort regelmässig Sans Papiers zu Demonstrationen, um auf ihre missliche Lage aufmerksam zu machen.
Buchautorin Walburga Hülk zeichnet nach, wie verblüffend einfach der Umbau der Metropole ablief. Im September 1853 hielt sich das Kaiserpaar in Veules-les-Roses bei Dieppe in der Normandie auf. Napoleon III. bat den Präfekten von Paris, Georges-Eugène Haussmann (1809–1891), zu Besprechungen in seine Sommerresidenz. Der Kaiser und der Präfekt brüteten über einem Pariser Stadtplan.
Haussmann nimmt die Sache an die Hand
Haussmann, der Sprössling einer elsässisch-deutschen Familie, war in Paris aufgewachsen und kannte die Stadt aus dem Effeff. Nach zwei Tagen wusste Haussmann, dass Paris in ein paar Jahren eine andere Stadt sein würde als in seiner Kindheit: «Der gewaltige kreuzförmige Durchstich, die Grande Croisée im Stil antiker Stadtgründungsakte, führte durch den mittelalterlichen Stadtkern der Île de la Cité mit der Kathedrale Notre-Dame und zog die breiten Achsen von Norden nach Süden und von Osten nach Westen», schreibt Hülk. Auf Hindernisse wollte niemand Rücksicht nehmen: «Paris wurde nun ausgeweidet.» Die Bewohner mussten in die Aussenquartiere weichen.
Das forderte Opfer wie den Dichter de Nerval: «Zur Kehrseite (…) gehörten Zeitarbeit und Niedriglöhne (…). Der Fortschritt war gross, aber um welchen Preis?», fragt Autorin Hülk. Ihre Schlussfolgerung: «Der grosse urbanistische Umbruch brachte räumliche und soziale Spannungen hervor, die sich (...) verstärkt in ethnischen und sozialen Konflikten niederschlagen.» Zunächst kam es nur vereinzelt zum Widerstand. Der Dichter Charles Baudelaire verglich Paris im Gedicht «Le cygne» besorgt mit einem leidenden Schwan: «Das alte Paris ist nicht mehr …»
Die Grandeur der Zweiten Republik
Der grosse Volkszorn blieb vorerst aus. Das erstaunt, denn Napoleon III. war keineswegs beliebt. Der Schriftsteller Victor Hugo etwa schickte aus seinem Exil auf den britischen Kanalinseln laufend seine Giftpfeile Richtung Paris, um das Regime zu destabilisieren.
Napoleon III. zelebrierte unverdrossen die Grandeur seiner Zweiten Republik mit Weltausstellungen, die damals als positive Sinnbilder der Globalisierung verstanden wurden. Erst seine aggressive Aussenpolitik, die mit dem Deutsch-Französischen Krieg in einer katastrophalen Niederlage endete, führte zum Sturz des Regimes. Die revolutionäre Commune, der Volksaufstand der Modernisierungsopfer, brachte danach das Bürgertum ins Schwitzen. Doch das neue Paris war bereits weit fortgeschritten.
Einer der grössten Boulevards erinnert heute an die «Haussmannisierung», die gleichnamige Prunkstrasse mit den grossen Kaufhäusern Printemps und Galeries Lafayatte. Wer sich um die Weihnachtszeit dorthin wagt, erlebt, was sich Georges-Eugène Haussmann nicht einmal erträumen konnte. Einheimische und Touristen geben sich gleichermassen den Freuden des Konsums hin, als ob es kein Gestern gegeben hätte und kein Morgen kommen würde.
Buch
Walburga Hülk
Der Rausch der Jahre – Als Paris die Moderne erfand
416 Seiten
(Hoffmann und Campe 2019)