Sachbuch: Ökonomisches Schlottern
Die Kleine Eiszeit in der Frühen Neuzeit bestimmte die Geschichte weit mehr, als man denkt. Zu diesem Schluss kommt der deutsche Historiker Philipp Blom in seinem Buch «Die Welt aus den Angeln».
Inhalt
Kulturtipp 11/2017
Rolf Hürzeler
Warum nur lässt sich eine Stradivari-Geige mit ihrem unvergleichlichen Klang nicht mehr nachbauen? Es ist seit dem 17. Jahrhundert zu warm geworden, die Bäume spriessen zu schnell: «Das langsame Wachstum der alpinen Bäume in einem kühleren Klima könnte ein wichtiger Faktor für den Klang der alten Meisterinstrumente sein, weil das engporige Holz bessere Resonanzen entwickelt.» Diese Bilanz zieht der deutsche Historiker Philipp Blom in seinem Buch ...
Warum nur lässt sich eine Stradivari-Geige mit ihrem unvergleichlichen Klang nicht mehr nachbauen? Es ist seit dem 17. Jahrhundert zu warm geworden, die Bäume spriessen zu schnell: «Das langsame Wachstum der alpinen Bäume in einem kühleren Klima könnte ein wichtiger Faktor für den Klang der alten Meisterinstrumente sein, weil das engporige Holz bessere Resonanzen entwickelt.» Diese Bilanz zieht der deutsche Historiker Philipp Blom in seinem Buch «Die Welt aus den Angeln».
Ein System gerät in Schieflage
Er arbeitet die Geschichte der Kleinen Eiszeit von 1570 bis 1700 klimatisch auf. Seine Hauptthese: Die alte feudale Ordnung Europas ging unter, weil die Kälte den sozialen Umbruch förderte. «Mit der Abkühlung des Klimas um mehr als vier Grad gegenüber den warmen Tagen des späten Mittelalters häuften sich im 16. Jahrhundert die schlechten Ernten und die Hungersnöte … immer öfter zerstörte schlechtes Wetter grosse Teil der Ernte – in vielen Jahren ging mehr als ein Drittel verloren.» Für die bäuerliche Bevölkerung war das eine Katastrophe: «Soziale Unruhen und regionale Bauernaufstände brachen aus, die oft mit grosser Härte niedergeschlagen wurden.» Damit ist laut dem Autor Blom ein über mehrere Jahrhunderte stabiles System innerhalb einer Generation in Schieflege geraten.
Blom hat – trotz vieler Auszeichnungen – eine populärwissenschaftliche Reputation. Seine früheren Bücher wie «Die zerrissenen Jahre» über die Zeitspanne von 1918 bis 1938 wurden von der Kritik zwiespältig aufgenommen. Tatsächlich kann man auch im Hinblick auf die Frühe Neuzeit die Frage stellen, ob er die klimatischen Auswirkungen überschätzt. Allerdings räumt er etwa die Bedeutung der damals religiösen und sozialen Zerrissenheit Europas ein, wobei all diese Entwicklungen eine klimatische Komponente haben sollen.
Die Auseinandersetzung mit Bloms Wetter-Ansatz lohnt sich: Denn immer wieder kommt der Autor zu überraschenden Schlüssen. Schlechtes Wetter wurde als Strafe Gottes angesehen, so ist es naheliegend, dass die Frommen nach Sündenböcken suchten: «Im nördlichen Europa und besonders im deutschsprachigen Raum führten die häufigen schlechten Ernten und die Angst vor Hungersnöten zu einer grausamen Form der Massenhysterie. Die oft von extremer Witterung und Ernteausfällen ausgelöst wurden: die Hexenverfolgung.»
Zahlreiche Hypothesen – keine Erkenntnisse
Philipp Blom erläutert plausibel, wie die klimatischen und die politischen Veränderungen in der Kulturgeschichte Niederschlag gefunden haben – von den holländischen Malern über das Elisabethanische Theater bis hin zur Aufklärung.
Angesichts der aktuellen politischen Debatte stellt sich die Frage, woher denn dieser kurzzeitige Klimawandel kam. Wissenschaftlich schlüssige Antworten gibt es nicht: «Hypothesen reichen von einer Abweichung in der Rotation der Erdachse bis hin zur möglicherweise periodisch auftretenden verminderten Sonnenaktivität, die sich zumindest für das späte 17. Jahrhundert nachweisen lässt.» Das aber erklärt den Beginn der Kleinen Eiszeit 100 Jahre früher nicht.
Buch
Philipp Blom
«Die Welt aus den Angeln»
302 Seiten
(Hanser 2017).