März, 1935: Der damals 24-jährige Max Frisch war fasziniert von der Nazi-Ausstellung «Das Wunder des Lebens» in Berlin. Nach seinem Besuch schrieb der Autor in der NZZ: «Und man staunt immer wieder, wie die begabten Aussteller den Weg finden, um ziemlich unvorstellbare Begriffe ins Schaubare zu übersetzen.» Der renommierte australische Historiker Christopher Clark («Die Schlafwandler») erinnert in seinem Werk «Von Zeit und Macht» an diese Episode.
Nazi-Ausstellung läutete neue Epoche ein
Christopher Clark belegt in seinem Buch mit zahlreichen Beispielen, wie sich politische Ansprüche durch einen manipulierten Zeitbegriff scheinbar legitimieren lassen: So setzten die französischen Revolutionäre auf einen eigenen Kalender, der das Ende der Monarchie 1792 manifestierte. Auch die russischen Revolutionäre erkannten den Wert der Zeit: Die Avantgarde der Partei wollte «die Beschränkungen der konventionellen ‹bourgeoisen›, linearen Zeit durch die endlose Intensivierung der Arbeit überwinden». Sie kürzten die arbeitsfreien Tage.
Für die Nationalsozialisten brach mit der Machtergreifung keine neue Zeitrechnung, aber eine neue Epoche an. Dies wollten sie in jener Ausstellung belegen, über die Max Frisch (1911– 1991) in der NZZ berichtete. Frisch erkannte damals zwar die bedrohliche Tragweite der deutschen Machthaber noch nicht, ihr Antisemitismus war ihm jedoch zuwider.
Als Besucher stand er in der Berliner Schau etwa vor einer riesigen «Lebensglocke». Die Installation stand unter dem Motto: «Die Familie als Träger des Lebens» und schlug alle fünf Minuten, um anzugeben, dass in dieser Zeit neun Deutsche zur Welt gekommen waren. Unter dem Objekt rieselte Sand durch ein Stundenglas zum Zeichen, dass in der gleichen Zeitperiode lediglich sieben Deutsche verstorben waren. Das ergab in der verschrobenen Logik der Nationalsozialisten einen «Nettogewinn» von zwei Deutschen. Die eigenen Gedanken, so erinnerte sich Frisch, seien vom Glockenklang unterbrochen worden. «Ihr Zweck lag auf der Hand: Sie sollte die Unausweichlichkeit der biologischen Zeit demonstrieren.»
Max Frischs Erinnerung täuschte
In der NZZ vom 30. April 1935 veröffentlichte der Schriftsteller seine Eindrücke. Er machte sich von dieser Ausstellung gemäss Clark allerdings keine Notizen, da er befürchtete, sie könnten von deutschen Beamten konfisziert werden. Dieses Versäumnis führte dazu, dass ihn die Erinnerung an die Glocke täuschte. Er meinte, sie schlage, um anzuzeigen, dass zu viele Deutsche gestorben und zu wenige geboren seien. Laut Frisch diente die Glocke demnach als Ermahnung an die Besucher, die menschliche Fortpflanzung als eine dringliche Angelegenheit zu betrachten, wie er in der NZZ berichtete. Die Ausstellungsmacher beschwerten sich in der Folge, und das Blatt musste eine Berichtigung bringen. Laut Clark war der Fehler von Frisch verzeihlich. Denn andere Ausstellungsobjekte hätten die Besucher auf ihre Verantwortung hingewiesen, im Dienst des Dritten Reichs mehr Kinder zu produzieren. Dieser Nachwuchs sollte Deutschland eine Vormachtstellung in Europa sichern.
Buch
Christopher Clark
Von Zeit und Macht. Herrschaft und Geschichtsbild vom Grossen Kurfürsten bis zu den Nationalsozialisten
313 S. (DVA 2018)