Eine junge Frau gewinnt ein Wagenrennen in einem Vierspänner. Neben der sportlichen Leistung steckt viel kulturelle Denkarbeit hinter diesem Vasenbild aus der griechischen Antike. Künstler gestalteten es und würdigten damit die Heldin. Vor allem aber konnte die Sportlerin ihre Leistung nur erbringen, weil sie einen mit Rädern versehenen Wagen besass. Denn ohne die beiden Räder wäre er zwecklos.

Am Anfang war die Drehscheibe
Doch woher kommt das Rad, und vor allem, seit wann dreht es sich im Dienst der Menschheit? Diesen Fragen geht der deutsche Kulturwissenschafter Harald Haarmann in seinem Buch «Die Erfindung des Rades – Als die Weltgeschichte ins Rollen kam» nach.

Er hat einen kleinen, lesenswerten Band geschrieben, der das Rad in einen ökonomischen und geistesgeschichtlichen Kontext einordnet. Haarmann ortet die Ursprünge der Räder vor 8000 Jahren in Mesopotamien und in der südlichen Ukraine. Die Idee der kreisförmigen Platte kam unseren Vorfahren bei der Fertigung von Tongefässen: Die Drehscheibe erwies sich als sehr nütz- lich. Aber es sollte Jahrtausende dauern, bis das Rad an Transportkarren und später an Streitwagen zum Einsatz kam.

Der praktische Nutzen mag heute auf der Hand liegen, aber in früheren Kulturen war das keineswegs selbstverständlich. Im Altertum gab es wenige Strassen, die Verkehrswege waren schlammig und sandig, sodass Schlitten verbreiteter waren als Räder. Der Handel vollzog sich zudem bis in die Neuzeit grösstenteils über die Wasserwege. Als sich das Rad dann aber im Transportwesen durchgesetzt hatte, wurde es unverzichtbar: «Der zweirädrige Transportkarren hat sich in Indien mit einer erstaunlichen Kontinuität bis heute gehalten», schreibt Haarmann.

Schon Streitwagen waren Repräsentationsvehikel
Wie viele Erfindungen hatte das Rad einen militärischen Nutzen: So ist eine Schlacht zwischen Hethitern und Ägyptern vor 3000 Jahren im heutigen Syrien überliefert, in der beide Seiten auf zweirädrige Streitwagen mit Lenkern und Kriegern setzten. Wobei das Geschick des Wagenlenkers entscheidend war: «Er war bemüht, sich nahe beim Kämpfer zu halten, damit dieser schnell zurück auf den Wagen springen konnte, um an anderen Brennpunkten zum Einsatz zu kommen.» Archäologische Grabungen bestätigten den kulturellen Ursprung des Rades auch in Westeuropa: «Funde von Wagenbildern auf Keramikscherben sind älter als die Reste von originalen Wagen.»

Das Rad als Idee war demnach weiter verbreitet als dessen praktische Nutzung. Der Autor Harald Haarmann erinnert in seinem Buch an eine 5500 Jahre alte Tonscherbe, die in Südpolen gefunden wurde. Sie zeigt die schematische Darstellung eines vierrädrigen Wagens und gilt als die älteste Zeichnung eines Gefährts. Wahrscheinlich sollte sie den Reichtum seines Besitzers illustrieren. Denn Wagen sind mit Prestige verbunden. Was heute die Staatskarossen sind, waren früher Re- präsentationsvehikel.

So habe sich Ramses II. gerne auf einem vergoldeten Streitwagen in der Öffentlichkeit gezeigt. Die Kli- schees über die Antike in alten Hollywoodfilmen waren offenbar trefflicher, als man denkt. Jedenfalls hat sich die Vorstellung vom Rad und von menschlichen Leistungen über die Jahrhunderte erhalten, wie die Darstellung der griechischen Athletin auf ihrem Vierspänner belegt.

Buch
Harald Haarmann - Die Erfindung des Rades – Als die Weltgeschichte ins Rollen kam
192 Seiten (C. H. Beck 2023)