Zum ersten Mal geküsst wurde nach heutigem Wissensstand vor 5000 Jahren im Gebiet des Flusses Euphrat. Dort verbreitete sich damals das Herpesvirus ungewöhnlich rasant, was Wissenschafterinnen heute auf eine starke Übertragung durch ein Begrüssungszeremoniell mit Küssen zurückführen.
Küssen ist also eine Erfindung. Und die Mehrheit der Menschen küsst nicht: Laut einer Studie aus den USA von 2015 küssen sich gerade mal 46 Prozent aller untersuchten Kulturen.
Knutscher, Bussi Bussi und Bruderkuss
Küssen sei also keine «anthropologische Konstante», sondern «reine Kommunikation», wie Hektor Haarkötter, Professor für Kommunikationswissenschaften, in seinem neuen Sachbuch schreibt. Und Kommunikation bestehe aus einer Botschaft und befolge Regeln. Diese können je nach Kontext unterschiedlich sein und sich mit der Zeit verändern. Zudem ist Küssen nonverbal: Es drückt Gefühle aus, für welche die Menschen keine Worte haben.
Dieser nonverbale Dialog oder Dualog, wie Haarkötter es nennt, sei gleichgestellt, weil beide Partner mit den Lippen küssen. Und er sei demokratisch, weil es für einen echten Kuss eine Einwilligung von beiden Seiten braucht. Der frühere Journalist erzählt mit einigen Ausschweifungen die spannungsreiche Geschichte des Küssens und zeigt dabei ein breites Wissen in Literatur, Philosophie und Geschichte. In seinem Buch geht er nicht nur auf die Küsse von Liebespaaren ein, sondern auf vielerlei Arten, vom Bussi-Bussi-Kuss bis zum Bruderkuss.
So küssten die alten Griechen beispielsweise noch einiges zurückhaltender als die kussfreudigen Römer. Das hemmungslose Knutschen der Römer konnte manchen auch zu viel werden, wie der Autor mit dem Auszug aus einem Text des römischen Dichters Martial aufzeigt: «Unmöglich ist es, Flaccus, den Küssern zu entkommen. Sie drängen, halten auf, verfolgen, kommen entgegen: von vorne und von hinten, allenthalben und überall.»
Social Media macht den Kuss obsolet
Der langen Geschichte des Kusses prophezeit Haarkötter aber ein baldiges Ende. Denn: Ein kulturelles Phänomen, das einen Anfang habe, müsse auch ein Ende haben. Und in einem Jahrhundert, in dem zunehmend über Social Media kommuniziert wird, gebe es keinen Platz mehr für den Kuss. Zudem sei Küssen heute kein revolutionärer Akt mehr und habe dadurch seine Botschaft verloren.
Doch ist die Normalisierung des Küssens nicht auch schön? Der Kuss gehört wieder den Menschen und nicht mehr der Öffentlichkeit. Durch die verschachtelten Sätze liest sich Haarkötters Buch manchmaletwasholprig.Trotzdem ist es eine berührende Hymne auf eine geschichtsträchtige Kommunikationsart, die uns hoffentlich noch für eine Weile erhalten bleibt. Denn in einer Zeit von zunehmender Polarisierung und Entfremdung sollte doch wieder mehr und nicht weniger geküsst werden.
Hektor Haarkötter
Küssen – Eine berührende Kommunikationsart
288 Seiten
(S. Fischer 2024)