Mit den Hermaphroditen hat für Gabriel Zuchtriegel alles angefangen – und mit einem Akt der Rebellion. Hermaphroditen: Das sind Wesen der griechischen Mythologie, die männliche und weibliche Körpermerkmale vereinen. Und die an all die Fragen zu sexueller Orientierung rühren, welche unsere Gesellschaft gerade beschäftigen.
Die Rebellion aber bestand für den damaligen Studenten darin, dass er in einer studentischen Arbeitsgruppe anhand der Beschäftigung mit Erotik und Sexualität Distanz fand zu einer Wissenschaft, die lieber Tempelgrundrisse studierte, als sich zu fragen, was sich zwischen diesen Mauern und Säulen abgespielt hat.
Heute, 17 Jahre später, beschäftigen Zuchtriegel solche Fragen mehr denn je. Und er greift sie in einem anregenden Sachbuch auf, das persönliche Erfahrung mit dem Nachdenken über Geschichte und Gegenwart verbindet.
Als Direktor des Archäologischen Parks Pompeji ist der 42-Jährige dazu am richtigen Ort. Denn als im Herbst des Jahres 79 der Vesuv einen Lavaregen auf seine Bewohnerinnen und Bewohner niedergehen lässt und mit mehreren siedend heissen Wellen alles Leben erstickt, werden die Menschen – und mit ihnen Gebäude und alle Utensilien des Alltags – förmlich konserviert.
«Eine mit Menschen vollgestopfte Stadt»
Schon kurz nach der Wiederentdeckung im Jahr 1748 locken die ersten Ausgrabungen Reisende an. «Die Häuser sind klein und eng, aber alle inwendig aufs Zierlichste gemalt», vermerkt Goethe am 13. März 1787. «Das Stadttor merkwürdig, mit den Gräbern gleich daran.» Man sehe das Meer und die untergehende Sonne. «Ein herrlicher Platz, des schönen Gedankens wert.»
Doch wahrscheinlich ist es an diesem «herrlichen Platz» ziemlich eng und schmutzig gewesen. «Pompeji war eine mit Menschen vollgestopfte Stadt», fasst Zuchtriegel neuere Forschungen zur Einwohnerzahl zusammen. Durchschnittlich 14 Männer, Frauen, Kinder und Sklaven hätten wohl in jeder der rund 1400 Wohneinheiten gehaust, von denen viele ziemlich dürftige Ein- oder Zweizimmerwohnungen gewesen sind.
Das ist das Besondere an Pompeji: Während andernorts nur die Villen der Reichen überdauert haben, finden sich hier auch die engen Behausungen der Sklaven, die Werkstätten, Schenken, Bordelle und Bäder. Und es kommen immer noch aufregende Entdeckungen hinzu, wie Zuchtriegel anschaulich beschreibt.
Die Nähe zur römischen Kultur
Immer wieder legt er dabei dar, wie nah uns diese Römer standen. Aber auch, wie fern uns manche ihrer Rituale und Einstellungen sind. Sklaverei zum Beispiel war für sie selbstverständlich.
Anlass zu moralischem Hochmut indes könne das nicht sein. Nicht nur, weil die Globalisierung heute andernorts durchaus sklavereiähnliche Verhältnisse schafft, von denen Menschen des Westens in Form von billiger Ware profitieren. Sondern auch, weil wir in der Klimakrise gerade im grossen Stil versagen – sodass man heute «mehr denn je an der Fortschrittsfähigkeit des Menschen zweifeln kann».
Gabriel Zuchtriegel, «Vom Zauber des Untergangs – Was Pompeji über uns erzählt», 238 Seiten, Propyläen 2023