Eine Platte Roastbeef mit Gemüse, dazu gebratene Speckscheiben und geröstete Gartenammern. Dann kommt ein Fischteller, bevor der Hauptgang mit einem Fleischragout und den Pasteten wartet. Das entspricht dem täglichen Diner einer englischen Familie der Oberschicht vor rund 200 Jahren. Andernorts im Königreich plagen dagegen existenzielle Sorgen die Menschen, wie es in einem Reisebericht heisst. Und die Kinder in einer Kohlengrube in Nordengland beschreibt ein Zeitgenosse mit folgenden Worten: «Sie waren meist halb nackt, schwarz von Staub und insgesamt so übel entstellt, dass sie wie eine Rasse aussahen, die dazu verurteilt war, ihr Leben in einer Art Fegefeuer zu verbringen. » Die Kleinen dort hatten keine Chance auf ein langes Leben und verstarben meist vor der Pubertät.
Ein Prinz zeigt keine Ambitionen zum Regieren
Diese Episoden beschreibt der britische Historiker Ian Mortimer in seinem neuen Buch «Im Rausch des Vergnügens». Der Autor hat sich der Zeit zwischen 1790 und 1830 angenommen. Das ist die Epoche der Französischen Revolution, der napoleonischen Kriege und der Restauration, als Europa innert einer Generation grundlegende Veränderungen erfuhr. Damals wandelte sich die Schweiz von der Alten Eidgenossenschaft zuerst zu einem französischen Vasallenstaat, aus dem nach und nach der moderne Bundesstaat entstand. Die Briten nennen diese Periode «Regency», nach dem Prinzregenten, dem Sohn von König George III., der für seinen Vater die Regierungsgeschäfte führen sollte. Der alte Monarch war dem Wahnsinn anheimgefallen. Doch sein Junge dachte nicht daran, sich sein Leben mit politischer Arbeit zu versauern: «Er ist ein lüsterner, betrunkener Flegel, ein Fresssack, Schnösel und Snob», beschreibt Mortimer den Mann. Laut der Ehefrau des Prinzregenten, Caroline von Braunschweig, verbrachte er die Hochzeitsnacht besinnungslos vor Trunkenheit vor dem Cheminée, und sie war nicht unglücklich darüber.
Die absolute Monarchie auf dem Abstellgleis
Hätte der Thronfolger seriöse politische Ambitionen gehegt, wäre seine Macht ohnehin beschränkt gewesen. Allein die zunehmende Komplexität moderner Regierungsarbeit setzten einer absoluten Monarchie damals ihre Grenzen. Rebellionen wie auf dem Kontinent blieben in England indes weitgehend aus. Die Auswüchse der Französischen Revolution waren den Briten in die Knochen gefahren. Dafür verfeinerte sich das Klassensystem zusehends. Bürgersinn und Fleiss führten dazu, dass der traditionelle Adel seine Daseinsberechtigung rechtfertigen musste. Denn Geld war nun wichtiger als Herkunft.
Verstörende Sitten und Gebräuche
Die gesellschaftlichen Konventionen jener Zeit sind aus heutiger Sicht verstörend. So war damals der Verkauf von Ehefrauen möglich. Paradoxerweise erwies sich diese schändliche Praxis im Lauf der Zeit aber als ein Ausweg für gepeinigte Frauen. Denn Scheidungen waren nur durch Parlamentsbeschluss möglich und damit für fast alle unerreichbar. So einigten sich zerrüttete Paare auf einen «öffentlichen Verkauf», um getrennte Wege zu gehen. Zumal als Käufer meist ein Verwandter oder allenfalls der Geliebte der Frau auftrat. Das war für manche der einzige Fluchtweg, einem tyrannischen Ehemann zu entkommen. Mortimer erzählt anrührende Geschichten wie diese mit viel Distanz. Er enthält sich billiger Urteile und versucht vielmehr, uns das Leben und Denken jener Zeit näherzubringen.
Ian Mortimer
Im Rausch des Vergnügens
Aus dem Englischen von Karin Schuler
494 Seiten (Piper 2022)