Der Autor Volker Hagedorn setzt in seinem neuen Buch «Flammen» den Leser gleich mit an den Tisch: bei Fürst von Bülow, dem Kanzler von Wilhelm II. Die Komponistin Ethel Smyth ist eingeladen auf «kurz nach sieben, Mittwoch, 5. März 1902». Smyth beobachtet, hört Gespräche über Politik, Kunst, Gesellschaft – und Klatsch. Ihr sei «jede Art und Form der Unterwerfung» verhasst, was dem Kaiser «gefalle», liest man. Und schliesslich, dass es «zartmürben» Tafelspitz gab.
Woher hat der Autor all diese Informationen? Wie jemand gesungen, Klavier gespielt hat? Wie das Wetter war? Ob ein Zug mit Sonderwagen gefahren ist, und welche Art von Unterhaltung darin gehalten wurde? Hagedorn ist nicht zum ersten Mal mit Lupe, Spürnase und sozialer Botanisierbüchse auf Zeitreise. Schon in «Der Klang von Paris» (2019) darf man «hautnah» erleben, wie «Rossini sich fotografieren lässt, Berlioz die Miete nicht zahlen kann, Meyerbeer Hollywood vorwegnimmt», wie es im Klappentext heisst.
Und er kriecht gar zu Bettlern unter die Brücke
Waren es damals Komponisten aus Paris, so sind im neuen Buch neben der erwähnten Engländerin Ethel Smyth etwa Richard Strauss und Gustav Mahler zugegen, aber auch Claude Debussy, Maurice Ravel, Igor Strawinsky und eine ganze Reihe weiterer Persönlichkeiten. Schauplätze sind Hotels, Restaurants, Operndirektionsbüros. Oder Soirees bei reichen Bankiers. Hagedorn will alles erfassen. Er blickt in die Vorstädte, in von Arbeiterfamilien mehrfach geteilte Betten, und er kriecht schliesslich gar zu den Bettlern unter die Brücke.
Wieder eine höchst detaillierte, höchst intime und auf irritierende Art faszinierende Perspektive, die der norddeutsche Autor in seiner oft nahe am Klatsch vorbeischrammenden «europäischen Musikerzählung» einnimmt. Es ist auch eine Erzählung des Sozialen, der Politik und Wissenschaft. Die Detailversessenheit schlägt ins Ab-surde um, wenn man zu lesen bekommt, dass die Schwester Alban Bergs einen Dackel namens Mahler hatte, der «seinen Namenspatron um fünf Jahre überleben wird».
An Quellen hat Hagedorn – Autor, Journalist und selbst Musiker – nicht nur die üblichen Briefwechsel gelesen, Erinnerungen und Autobiografisches, Sekundärliteratur. Er hat auch Fotos betrachtet, Fahr- und Stadtpläne studiert, Zeitungen sowie Reiseführer gelesen. Das Resultat mutet wie hyperrealistische Malerei an. Malerei, nicht Fotografie, notabene. Denn alles kann Hagedorn den Quellen nicht entnommen haben. Das verursacht beim Lesen bisweilen ein Unbehagen. Wo verläuft die Linie zwischen Fiktion und Belegbarem? Die Klarheit schlägt ins Trübe um.
Schilderungen bescheren magische Momente
Im Positiven gelingt es der «Erzählung», den Leser nah an den Gegenstand zu führen. Eine Musikgeschichte in Zeiten des Umbruchs, mit einer dezidiert europäischen Perspektive und einer wichtigen Protagonistin, eben Ethel Smyth. Plastisch sind Hagedorns Werkbeschreibungen. Wie er den Leser in Debussys «Pelléas et Mélisande» hineinzuversetzen vermag, ist magisch. Öfters aber muss man gedanklich auf Weitwinkel stellen, um sich von den ganzen Einzelheiten wieder zu lösen. Ein Perspektivenwechsel, den der Autor besser selbst unternommen hätte.
Buch
Volker Hagedorn
Flammen. Eine europäische Musikerzählung 1900–1918
447 Seiten
(Rowohlt 2022)