Unser Wissen beruht auf Hörensagen. So sind die meisten überzeugt, dass die Erde eine Kugel ist, aber nur rund 600 ehemalige Astronauten haben die Erde von aussen je gesehen. Die anderen Menschen glauben den Befund unbesehen, mittlerweile sogar die katholische Kirche.
Ähnlich verhält es sich mit zahlreichen unbestrittenen Erkenntnissen, etwa dass der Mensch vom Affen abstammt, ohne dass wir in einer Diskussion zwingende Beweise vorlegen könnten: «Was Sie für richtig und wahr halten, lernen Sie in der Schule aus Büchern», schreibt der NZZ-Wissenschaftsjournalist Reto U. Schneider in seiner neuen Fibel «Die Kunst des klugen Streitgesprächs».
Glaube oder Zweifel an der Wissenschaft
Der grösste Teil unserer Ideen und Meinungen sind nicht auf dem eigenen Mist gewachsen, sondern beruhen auf einer Konformität der Wissenschaften. Heikel wird es dann, wenn man sich im Gespräch nicht einigen kann, welches wissenschaftliche Wissen gesichert ist. Die Frage nach der Form der Erde wird zwar selten zu Zwist führen.
Aber wie war es noch mit der Covid-Impfung? Und wie wirksam ist die Homöopathie? Bei solchen Themen endet die Diskussion oft in einer Sackgasse, wie Schneider konstatiert: «Mein Wissenschafter ist besser als dein Wissenschafter.» Diese Meinung vertreten sehr viele, was die Wahrheitsfindung erschwert. Darum sei es ein Irrglaube, dass Menschen bei wissenschaftlichen Erkenntnissen mehr übereinstimmen, wenn sie gebildeter sind.
Glaube und Zweifel
Schneider stützt seine Befunde allerdings selbst auf wissenschaftliche Untersuchungen. Womit sich offenkundig die Frage nach zuverlässiger Wissenschaftlichkeit auch bei ihm stellt.
Glaube oder Zweifel an der Wissenschaft erläutert der Autor anhand des Klimawandels. Die überwältigende Mehrheit der Menschen unterschiedlicher politischer Couleur sind der Überzeugung, dass der Klimawandel auf menschliche Aktivitäten zurückgeht. Doch bei der Bildungselite bestimmt vor allem die Parteizugehörigkeit die Meinung, wie zumindest Befragungen von Republikanern und Demokraten in den USA ergeben haben.
Gebildete Republikaner ziehen den menschengemachten Klimawandel fast unisono in Zweifel, gut ausgebildete Demokraten sind überzeugt davon.
«Wir glauben nur, die Welt objektiv zu sehen»
Erkenntnisse sind demnach eine Frage des Standpunkts. So ist die Einsicht banal, dass Anhänger des FC Basel und des FC Zürich ein Spiel ihrer Mannschaften unterschiedlich bewerten.
Folgenschwerer ist dieses Phänomen, wenn Parteigänger der Grünen oder der SVP einen Abstimmungskampf interpretieren. Beide unterstellen der Gegenseite Tricksereien – und schon geht der Krach los. «Alles Vollidioten ausser Ihnen», konstatiert Schneider und folgert: «Wir glauben nur, die Welt objektiv zu sehen.»
Plädoyer für mehr Demut
Die Einflüsse, denen wir unterworfen sind, deuten wir als Quelle der Weisheit, jene unserer Gegner als Ursprung von Vorurteilen und Ressentiments. So gesehen plädiert Schneider für mehr Demut in der Diskussion: «Es ist das tragische Schicksal des Menschen, dass er die Welt nicht wirklich mit den Augen der anderen sehen kann.» Stellt sich die Frage, ob dieses Buch tatsächlich zu einer Verbesserung der Streitkultur beitragen kann.
Im besten Fall mag man während einer Debatte die eigene Haltung relativieren. Im schlimmsten Fall bleibt man in den eigenen Gedankenkonstrukten verstrickt. Denn: «Unglücklicherweise kann niemand einem naiven Realismus entfliehen.» Das heisst, man hält für wahr, was man sagt, auch wenn es falsch ist
Reto U. Schneider
Die Kunst des klugen Streitgesprächs, Kösel 2023,
160 Seiten