War da was? Vor fast zwei Jahren liess Deutschland Tausende von Flüchtlingen in das Land kommen. Sie wurden am Münchner Hauptbahnhof empfangen und in die einzelnen Bundesländer weiter gewiesen. Der Einreiseentscheid war kontrovers: Die einen erachteten ihn als einen Akt der Vernunft gegenüber Notleidenden; eine Katastrophe befanden andere. Heute ist die Episode im Bundeswahlkampf fast vergessen, denn Deutschland machte die Grenzen wieder dicht – wie alle andern Staaten auch.
Fehlende Schulung in Tiefenpsychologie
«Wäre sie, die nie Zeit gehabt hatte, sich mit ihrem Innern auseinanderzusetzen, tiefenpsychologisch geschult gewesen, hätte sie gewusst, was genau da passierte», schreibt der deutsche Autor Konstantin Richter. Bundeskanzlerin Angela Merkel verwandelte angeblich ihre Frustrationen der vergangenen Monate in schöpferische Energie. Sie schrieb eine emotionale Rede, die es in sich hatte: «Wir schaffen das …» Angeblich halfen ihr Musik von Mozart sowie eine vom dänischen Regierungschef geschenkte Weissweinflasche, damit sich ihr Herz für die Flüchtlinge öffnete.
So spielten sich jedenfalls in der Fantasie von Konstantin Richter die Stunden vor der berühmten Ankündigung der Kanzlerin ab. War der Entscheid einmal gefällt, kannte ihre Begeisterung keine Grenzen mehr. Sie beauftragte sogar ihren jüngsten Mitarbeiter, den Social-Media-Experten im Kanzleramt, ihr klandestin einen Flüchtling zu besorgen, damit sie die Sache aus der Nähe ansehen könne. Der Mitarbeiter wählte einen deutsch sprechenden Goethe-Experten aus Syrien aus. Der Kanzlerin dämmerte nach und nach, dass der junge Mann möglicherweise nicht ganz der typische Asylbewerber unter seinesgleichen war, da die Integration nicht immer dank Goethe gelingt. Nach weiteren Wirren in der Krise war der Social-Media-Experte übrigens seinen Job los. Denn die Kanzlerin war – Flüchtlinge hin oder her – sich selbst geblieben und schreckte vor harten Entscheidungen nicht zurück.
Nach und nach nährten sich bei ihr ohnehin Zweifel an der offenen Einwanderungspolitik. Zumal sie unter dem Druck des Bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer stand, dessen Land zwar die Flüchtlinge zuerst aufnehmen musste, den sie jedoch nicht rechtzeitig über deren Ankunft informierte. Denn sie wollte ihm die Laune nicht verderben, wenn er gerade mit seiner Modelleisenbahn spielte. Das tut er offenbar viel lieber, als regieren. Das Versäumnis der Kanzlerin vermieste ihm die Stimmung später umso mehr.
Ein Kenner der Politszene berichtet
Autor Richter hat eine witzige Persiflage geschrieben. Man spürt, wie genau er den Berliner Politikzirkus kennt, und wie wenig er davon hält – mit all den Opportunisten, Neidern und Intriganten. Mitunter hält man bei der Lektüre inne und denkt an den ernsthaften Hintergrund der Geschichte. Denn auch wenn die Kanzlerin ihre politischen Einsichten zwischenzeitlich mehrmals angepasst hat: Die Flüchtlingspolitik wird sie und ihre Nachfolger noch Jahre beschäftigen.
Buch
Konstantin Richter
«Die Kanzlerin – Eine Fiktion»
173 Seiten
(Kein & Aber 2017).