«Warum willst du über mich schreiben, wen soll das schon interessieren?», fragte die Mutter den italienischen Journalisten Concetto Vecchio, als er sein Buch in Angriff nahm. «Mich interessiert das», antwortete er und liess seine Mama vorerst etwas nachdenklich zurück.
Concetto Vecchio wurde 1970 als Kind italienischer Gastarbeiter in der Schweiz geboren und verbrachte seine Kindheit und Jugend in Lenzburg. Er war 14 Jahre alt, als sein Vater entschied, wieder nach Sizilien zurückzukehren. Und er musste mit.
In steter Angst vor der Ausweisung
Ein harter Schlag für Concetto, denn er fühlte sich nicht als einer dieser «E-mi-gran-ten», wie es sein Vater immer betonte. Concetto wollte kein Fremder sein. Er wollte «Roman, Thomas oder Markus heissen». Zurück in Sizilien jedoch erfuhr er am eigenen Leib, was Emigration heisst. Er war zwar Italiener, fühlte sich aber auch als Schweizer und wurde zum Fremden im eigenen Land.
Dieser Umstand veranlasste den heute 49-Jährigen, der Familien- und Auswanderungsgeschichte seiner Eltern nachzugehen. Er wusste wenig darüber. Gleichzeitig kam er als Po-litjournalist der «Repubblica» nicht darum herum, die wirtschaftlichen wie gesellschaftspolitischen Hintergründe der 60er- bis 80er-Jahre unter die Lupe zu nehmen: die unerwünschten «Tschinggen» und ihre prekären Wohnverhältnisse, das Saisonnierstatut und die Lohnpolitik.
Zentrale Figur jener Zeit war James Schwarzenbach, «der erste populistische Popstar», wie ihn Vecchio betitelt. Der intellektuelle Eigenbrötler forderte in seiner «Überfremdungsinitiative», den Ausländeranteil zu beschränken: 300 000 Italiener hätten bei einem «Ja» die Schweiz verlassen müssen. Mit seinem Vorstoss schürte Schwarzenbach Ende der 60er-Jahre den allgegenwärtigen Fremdenhass und die soziale Diskriminierung aufs Gröbste.
Auch Concettos Mutter hat ihrem Sohn von den Ängsten erzählt, die sie und viele ihrer Landsleute zur Zeit der Schwarzenbach-Ära ausstanden, weil sie fürchteten, aus der Schweiz ausgewiesen zu werden. Am 7. Juni 1970 wurde das Schlimmste vorerst abgewendet. 54 Prozent der Schweizer lehnten die Initiative ab. Die rechte Ausländerpolitik aber blieb.
Vecchio hat sich in eingehender Recherche mit dem Menschen James Schwarzenbach auseinandergesetzt. Dessen Aufstieg zeichnet er im Buch anhand von biografischen Textauszügen und Zeitungsartikeln nach, die er puzzleartig zwischen die Auswanderungsgeschichten seiner Eltern und anderer italienischer Landsleute eingebettet hat. «Jagt sie weg!» ist so zu einem Sachbuch geworden, das weit über eine Familienbiografie hinausgeht.
Spannend und erhellend ist dabei nicht nur der italienische Blick auf die damalige Schweiz. Vecchio macht im Buch auch die Komplexität der Themen Migration und Fremdenfeindlichkeit deutlich – nicht zuletzt dank seiner eigenen Erkenntnis: «Ich weiss, was Emigration heisst, weil ich sie am eigenen Leib erfahren habe. Ich weiss, wie hart die Nostalgie sein kann über eine verlorene Welt und wie schwer es ist, sich zurechtzufinden, in einer neuen Welt.» Und genau das macht das Buch so wertvoll.
Buch
Concetto Vecchio
Jagt sie weg!
224 Seiten
(Orell Füssli 2020)