Auf dem Athener Friedhof Kerameikos entdeckten Archäologen ein Massengrab aus dem 5. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung. DNS-Untersuchungen an drei Skeletten ergaben, dass diese Menschen einst an einem thyphoiden Fieber gestorben sein könnten. Handelte es sich dabei um eine Seuche, über die der griechische Geschichtsschreiber Thukydides in jener Zeit berichtet hatte? Möglicherweise, denn Typhus war wegen der schlechten hygienischen Verhältnisse weit verbreitet. Wie der Zeuge weiter schreibt, mieden selbst Raubvögel und Hunde diese Leichen, weil auch sie nach einem Kontakt erkrankten. Allenfalls war das Massensterben sogar auf eine Seuche zurückzuführen, die heute verschwunden ist.
Das ist ein Versuch retrospektiver Diagnose in dem neuen Buch «Die Entdeckung der Medizin» des Althistorikers Robin Lane Fox. Er erläutert anhand einer Sammlung von antiken ärztlichen Fallgeschichten, den «Epidemischen Briefen», die Medizin in der griechischen Antike. «Als es Sommer und Herbst war, kam es zu vielen Fällen von anhaltendem Fieber, aber nicht heftig … Es gab verstimmte Mägen, für die meisten jedoch recht erträglich … Der Urin war in den meisten Fällen wohlgefärbt.» Was harmlos tönt, entwickelte sich für einzelne Patienten innerhalb von drei Wochen zu einem lebensbedrohlichen Leiden. Auch in diesem Fall lässt sich laut dem Autor die Ursache nicht mehr rekonstruieren.
Die Leiden gehörten bei den Griechen zum Leben
Der emeritierte Oxford-Professor Robin Lane Fox ist einer der wichtigsten Antiken-Forscher. Mit Biografien von Alexander dem Grossen oder dem Religionsphilosophen Augustinus von Hippo machte er sich in der Fachwelt wie bei Laien gleichermassen einen Namen. In seinem neuen Buch schreibt er von den reisenden Ärzten, die durch Griechenland zogen. Die meisten stammten von der Insel Kos und der Stadt Knidos in der Ägäis und fassten ihre Erfahrungen in Krankheitsgeschichten zusammen. Die Patienten hatten jeweils geduldig auf die Ankunft der Heiler zu warten, und die Konsultationen waren meist kostspielig. Gesundheit war schon damals eine soziale Frage.
So unterschiedlich die antiken Fallgeschichten sein mögen, sie weisen Gemeinsamkeiten auf: Die Ärzte verzichteten meist auf medizinische Ratschläge und berichteten schon gar nicht von Therapien. Auch erachteten die Griechen Krankheiten nicht als eine göttliche Strafe, obschon ihr Schicksal in der Hand des Olymps lag. Das Leiden gehörte zum Leben.
Überanstrengung galt grundsätzlich als schädlich
Die damalige Lebenserwartung lässt sich nicht mehr exakt festlegen. Laut Lane Fox ist erwiesen, dass nur jedes zweite Baby die Geburt überlebte. Wer das schaffte, konnte damit rechnen, zwischen 30 und 40 Jahre alt zu werden. Mit 50 gehörten die Griechen zum alten Eisen und wurden nicht mehr behandelt.
Das medizinische Wissen war im Vergleich zu heute gering: «Ansteckungen entzogen sich den Vorstellungshorizonten der Ärzte», schreibt Lane Fox. Deshalb suchten sie nach anderen Erklärungen für die Ursache übertragbarer Krankheiten. So führten sie den Mumps auf zu viel Ertüchtigung der Turner zurück, wenn sich eine Gruppe im Gymnasium angesteckt hatte. Zu grosse Überanstrengung wurde grundsätzlich als schädlich angesehen. Demnach schadeten sexuelle Ausschweifungen den Männern und liessen ihre Körper austrocknen.
Buch
Robin Lane Fox
Die Entdeckung der Medizin – Eine Kulturgeschichte von Homer bis Hippokrates
(Klett-Cotta 2021)