Die jungfräuliche Empfängnis Marias ist spirituell zu verstehen. Der englische Bibelforscher John Barton bezieht sich auf eine Stelle zu Beginn des Johannesevangeliums: «Allen aber, die ihn aufnahmen, gab er Macht, Kinder Gottes zu werden, allen, die seinen Namen glauben, die nicht aus dem Blut (…), sondern aus Gott geboren sind.» Erst eine spätere Version dieser Bibelstelle besagt, «dass Maria Jesus jungfräulich empfangen habe, dass Jesus vom Heiligen Geist empfangen und von der Jungfrau geboren» wurde. Die Bibellektüre lässt keinen eindeutigen Schluss zu, wie John Barton in seinem neuen Buch «Die Geschichte der Bibel» schreibt.
Evangelien als Erlebnisberichte
Die unterschiedliche Darstellung der Weihnachtsgeschichte ist typisch für das Bibelverständnis von John Barton. Für ihn ist diese Schrift eine Textsammlung, die unterschiedliche Interpretationen zulässt: «Die Bibel ist kein heiliger Text, aus dem sich ganze religiöse Systeme herauslesen lassen.» Sie sei vielmehr eine Fundgrube, die das Christentum und das Judentum in ihrer Entwicklung formten.
Autor John Barton ist Theologieprofessor am renommierten Oriel College von Oxford. Seit Jahren interpretiert er die biblische Ethik in einer Sprache, die Laien verständlich ist. Sein Buch ist zwar eine anspruchsvolle Lektüre, setzt aber keine theologischen Kenntnisse voraus.
Wenig überraschend führt Barton die Bibel auf die Welt des östlichen Mittelmeerraums zurück. Wahrscheinlich gehen die ersten Geschichten ins 8. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung zurück, etwa in die Epoche Homers. Sie wurden mündlich überliefert und erst rund ein halbes Jahrtausend später niedergeschrieben.
Das Neue Testament ist für den Theologen eine Sammlung von Niederschriften unterschiedlicher Leute, die verschiedenen Glaubensrichtungen anhingen und zu unterschiedlichen Zeiten an den Texten arbeiteten. Barton führt es in der heute mehr oder weniger gültigen Form auf das zweite Jahrhundert unserer Zeitrechnung zurück.
Die Evangelien gelten als Erlebnisberichte, als Überlieferungen von Begegnungen mit dem Messias und erfuhren zahlreiche Veränderungen. Auch nachdem die Christen das Neue Testament als festen Textkorpus verstanden, kamen Ausschmückungen dazu. Ein Beispiel dafür bietet wiederum die Weihnachtsgeschichte, als die Welt während der Geburt von Jesus stillgestanden sein soll: «Ich aber, Josef, ging umher und ging doch nicht umher. Und ich blickte hinauf zum Himmelsgewölbe und sah es stillstehen …» Den Stern von Bethlehem hält Barton für erfunden.
Der Wahrheitsgehalt vieler Geschichten aus den Evangelien lässt sich heute kaum mehr überprüfen. So gibt es etliche Versionen etwa von der Geschichte der Ehebrecherin im Johannesevangelium, die in der Aufforderung von Jesus gipfelte: «Wer von Euch ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein auf sie.» Ein Vorfall, der sich in dieser oder anderer Form zugetragen haben kann oder auch nicht.
Erläuterungen wie diese machen das Buch lesenswert. Es erhellt Geschichten, von denen Laien zwar eine Vorstellung haben, aber meist nur eine diffuse.
Buch
John Barton
Die Geschichte der Bibel – Aus dem Englischen von Jens Hagestedt, Karin Schuler, 716 Seiten
(Klett-Cotta 2020)