Sachbuch - Der Chinese am Michigansee
Die Franzosen standen bei der Entdeckung Nordamerikas im <br />
Schatten der Engländer. Ein deutscher Historiker wertet ihre Rolle auf mit dem Buch «Als die Franzosen Amerika entdeckten». Allerdings nur aus Sicht der Europäer.
Inhalt
Kulturtipp 18/2012
Rolf Hürzeler
Kleine Verwirrung um ein Reiseziel: Der französische Abenteurer Jean Nicollet erreichte im Sommer 1634 mit ein paar einheimischen Huronen den Michigansee. Nach der Überquerung glaubte er, in China angekommen zu sein und den pazifischen Ozean entdeckt zu haben.
Bei der Landung trug Nicollet ein fernöstliches Damast-Gewand «übersät mit Blumen und Vögeln», um sich bei den Chinesen anzubiedern. In diesem Aufzug jagte er den dort ansässige...
Kleine Verwirrung um ein Reiseziel: Der französische Abenteurer Jean Nicollet erreichte im Sommer 1634 mit ein paar einheimischen Huronen den Michigansee. Nach der Überquerung glaubte er, in China angekommen zu sein und den pazifischen Ozean entdeckt zu haben.
Bei der Landung trug Nicollet ein fernöstliches Damast-Gewand «übersät mit Blumen und Vögeln», um sich bei den Chinesen anzubiedern. In diesem Aufzug jagte er den dort ansässigen Winnebago-Einheimischen allerdings ziemlichen Schrecken ein, denn sie hielten ihn in diesem Aufzug für ein «göttliches Wesen».
Wege und Irrwege
Das ist eine Episode im Buch «Als die Franzosen Amerika entdeckten» des emeritierten deutschen Historikers Udo Sautter. Er schildert in seinem Buch die Wege und Irrwege, die Franzosen durch die nördliche Hälfte des amerikanischen Kontinents führten. Es ist eine Sammlung von witzigen Begebenheiten aus der oftmals verwirrenden Kolonialgeschichte Nordamerikas. Das ist allerdings verharmlosend, zumindest aus Sicht der Ureinwohner. Immerhin beruht Nordamerikas Geschichte auf Genozid.
Sautter unterteilt die Entdeckungsreisen der Franzosen in Phasen: Zuerst erreichten Fischer im 16. Jahrhundert den Kontinent, beim Kabeljaufang in den ertragreichen Gewässern Neufundlands. Ein paar Jahrzehnte gewann der Handel mit Biberpelzen an Bedeutung. Erst Mitte des 17. Jahrhunderts erkannten die staatlichen Autoritäten die politische Bedeutung des neu entdeckten Kontinents im Kampf um die politische Vormachtstellung. Es entwickelte sich ein Wettstreit zwischen den Briten, Spaniern und Franzosen, zeitweilig auch den Holländern.
Sautter hat ein episodenhaftes Buch geschrieben. Er verzichtet auf eine umfassende Darstellung der französischen Kolonialgeschichte in Nordamerika. Dafür ist das Buch eine leicht lesbare Einführung in die Materie, bei der stets für Unterhaltung gesorgt ist. Etwa wenn Udo Sautter vom jungen Abenteurer Nicolas Vignau berichtet, der 1612 in Frankreich behauptete, die Nordwestpassage zum Pazifik via Sankt-Lorenz-Strom gefunden zu haben. Der Schwindel flog auf, als einige Algonkin den Franzosen glaubhaft versicherten, dass Vignau keinesfalls auf kühner Entdeckungsreise war, sondern sich geruhsam bei ihnen erholte. Es sollte noch fast hundert Jahre dauern, bis der Weg zum Westmeer tatsächlich zuverlässig erschlossen war.
Möchtegern-Entdecker
Nicolas Vignau war keineswegs der einzige Scharlatan. Zahlreiche Möchtegern-Entdecker behaupteten, den Weg der begehrten Nordwestpassage zu kennen, um das Geheimnis gegen Geld zu verkaufen. Mitunter endeten die kolonialen Eskapaden der Franzosen unangenehm. So geriet der Waldläufer Etienne Brûlé in die Hände von feindlichen Seneca: «Mit den Zähnen rissen sie ihm die Fingernägel aus, brannten ihn mit Feuer und zogen seinen Bart Haar um Haar heraus», heisst es in einer zeitgenössischen Darstellung. Allerdings: Die Misshandlungen der Indigenen durch die Kolonialisten sind nirgends aufgezeichnet. Schriftliche Quellen der Einheimischen gibt es nicht, und die Europäer stellten ihren Imperialismus beschönigend dar.
Die knappe Darstellung der Geschehnisse zwang Sautter, andere wichtige Episoden bei der Kolonialisierung Nordamerikas auszulassen. So ist der Konflikt zwischen den Briten und den Franzosen sehr kurz ausgeführt.