Wer den Titel von Bob Dylans Buch genau beim Wort nimmt, dürfte enttäuscht werden. Der Musiker, der 2016 den Literaturnobelpreis für seine Songtexte erhielt, ist nicht unter die Philosophen gegangen.
«Die Philosophie des modernen Songs» ist eine betont und lustvoll unsystematische Reihe von Bemerkungen über Songs, die ihm gefallen. In 66 kurzen Texten plaudert er drauflos, zieht den Leser in die Welt der Songs hinein und teilt eine Fülle von Beobachtungen und Anekdoten.
Mit «modern» meint der 81-Jährige die Songs seiner Jugend, also der 1940er- bis 1960er-Jahre. Dabei erstaunt, dass Dylan nicht nur dem Folk und Country, sondern auch Genres wie Rockabilly, Bluegrass und sogar Punk Platz einräumt.
«Speed Metal ohne peinliches Elasthan»
Seine Annäherung an die Songs ist zweiteilig. Zunächst spricht er den Leser in der Du-Form an und beschwört die Atmosphäre des Songs herauf. Im Fall von Bekanntem wie Willie Nelsons «On The Road Again» ist der Erkenntnisgewinn überschaubar. «Dieser Song fühlt sich an wie unterwegs sein auf der Strasse», erklärt Dylan, um dann zu folgern: «Wenn du unterwegs bist, lebst du das Leben, das du liebst.» Dem schnoddrigen Stück «My Generation» von The Who entnimmt er eine Haltung: «Du schaust auf die Gesellschaft von oben herab und hast keine Verwendung dafür.»
Selbst einer Schnulze wie «Volare» kann Dylan etwas abgewinnen: «Du freust dich wie verrückt, schwebst auf Wolken, und der Raum ist unendlich.» Ergiebiger sind die Passagen, in denen Dylan die Songs einordnet und ihre Stärken hervorhebt. Anhand von «Ruby, Are You Mad?» der Osborne Brothers etwa zeigt er auf, was diese Bluegrass-Band kompositorisch, gesanglich und intrumentaltechnisch draufhatte. Die enorme Energie des Stücks vergleicht er mit einem anderen Genre: «Das ist Speed Metal ohne peinliches Elasthan und spätpubertäre Teufelsverehrung. » Im Vorbeigehen wird deutlich, womit Dylan nichts anfangen kann.
«Die Stimme eines lädierten Engels»
Dieser und andere alte Hits machen Dylans reich bebilderten Band zur Fundgrube. Eine Entdeckung ist auch Johnnie Rays «The Little White Cloud That Cried» von 1951. «Es ist die Stimme eines lädierten Engels, der ausgestossen wurde und nun durch die Strassen der schmutzigen Städte zieht, singt und kreischt, weint und bettelt, Mikroständer und Klavierhocker zerlegt. »
Anders als Dylan liess sich Ray auf der Bühne von seinen Gefühlen überwältigen. Dazu liefert Dylan eine Liste von Künstlern, die das ebenfalls zu tun pflegten. Doch allein «Johnnie hat alles gegeben. Und wir haben alle geweint». Auffällig ist, dass in Dylans Auswahl Gospel und Folk nicht zentral sind. Doch der Singer-Songwriter wollte wohl nicht ins eigene Gärtchen treten und in Versuchung kommen, sich selbst zu loben. So ist sein Buch eine verhältnismässig uneitle Hommage an die gute alte handgemachte Musik – und ein Plädoyer für den Song als Identifi- kationsangebot.
Bob Dylan - Die Philosophie des modernen Songs
352 Seiten (C.H. Beck 2022)