Wohlbehütet wächst Gudrun Samuel in den 1920er-Jahren in Mainz auf. Sie besucht das Gymnasium und verliebt sich mit 13 in den drei Jahre älteren Martin Schubert. Es ist «die Liebe ihres Lebens». Als 1933 Adolf Hitler zum Reichskanzler gewählt wird, will noch keiner so recht wahrhaben, welche Katastrophe sich anbahnt, am allerwenigsten Gudruns Vater Wilhelm. «Seine Liebe zu Deutschland liess er sich nicht nehmen, schon gar nicht von dieser Räuberbande, die in Berlin regierte.» Als Besitzer von 15 Schuhläden hatte Wilhelm noch Jahre zuvor die Zentrums-Partei gewählt und in patriotischer Pflichterfüllung sein im Ausland verstecktes Vermögen nach Deutschland zurückgeholt.
Kenntnisse über Goethe retten ihr das Leben
Erst 1939 versucht Gudrun, das Familienvermögen aus Deutschland rauszuschaffen. Sie wird dabei von der Gestapo erwischt und kommt in Haft. Ihr Vater nimmt sich bald darauf das Leben. Glück, Zufall oder Schicksal: Der Oberkommissar ist vernarrt in Gudrun; ihre Kenntnisse über Goethes «Faust» retten ihr wohl das Leben. Unter seinem Schutz kommt sie nach 16 Monaten Haft wieder frei und wird des Landes verwiesen.
Mit der Transsibirischen Eisenbahn reist sie durch Asien und gelangt nach Schanghai. Ihr freies Leben ist von kurzer Dauer. 1942 übernehmen die Japaner die Kontrolle über Schanghai. Gudrun lebt dort bis zum Ende des Krieges im jüdischen Ghetto und kehrt über Umwege nach Europa zurück.
Vergessene Generation der Nachkriegskinder
Ihre grosse Jugendliebe Martin ist im Krieg gestorben, ihre Mutter in Treblinka umgekommen. Einzig ihre Freundin Margot lebt noch. Sie hat die schlimmsten Jahre mit ihrer Familie fernab des Geschehens in den USA verbracht und praktiziert nun als Psychiaterin.
Die 70-jährige Schriftstellerin Sabine Bode erzählt in ihrem Debütroman «Das Mädchen im Strom» eine ergreifende Geschichte. Sie hat sich bislang in Deutschland vor allem als Sachbuchautorin einen Namen gemacht. Dabei beschäftigte sie sich in zahlreichen Werken mit der vergessenen Generation der Nachkriegskinder.
Der nun vorliegende Roman basiert auf dem Leben der Jüdin Gertrude Meyer-Jörgensen, die 2011 im Alter von 93 Jahren in Wiesbaden gestorben ist. Bode agiert in ihrem Buch über weite Strecken als distanzierte Biografin, die sich der Gefühlswelt ihrer Protagonistin mit leisem Respekt nähert und diese sanft offenlegt.
Dabei zeigt die deutsche Schriftstellerin, wie mutig Gudrun durchs Leben ging; sie liess sich nie unterkriegen. Im Gegenteil: Sie behielt das Recht für sich, das zu bleiben, was sie bereits als Mädchen war, als sie jeweils verbotenerweise zu den Tankschleppern im Rhein geschwommen war – eine unbezähmbare lebensbejahende Draufgängerin.
Vier Fragen an die Autorin Sabine Bode
«Ich hatte zu ihrer Geschichte noch viel mehr Fragen»
kulturtipp: Frau Bode, Sie haben bislang etliche Fachbücher über Kriegskinder und Kriegsenkel geschrieben, nun veröffentlichen Sie Ihren ersten Roman. Was gab den Ausschlag dazu?
Sabine Bode: Das erste Romanmanuskript schrieb ich vor 17 Jahren. Es hat eben gedauert, bis sich ein Verlag dafür interessiert hat.
Da ist Gudrun, die nach Schanghai flüchtet, und da ist ihre Freundin Margot, die sich in die USA absetzt: Zwei Schicksale, die nicht gegen-sätzlicher sein könnten. Wie sind Sie auf das Leben von Gudrun Samuel gestossen?
Ihre Überlebensgeschichte basiert weitgehend auf einer «true story». Die Mainzer Jüdin Gertrude Meyer-Jörgensen hat sie mir vor vielen Jahren während einer Woche in Ascona erzählt, auf zehn Audiokassetten. Damals war sie 80 Jahre alt. Ich entschied mich, mit ihrer Zustimmung, einen Roman zu schreiben, weil ich zu ihrer Geschichte noch viel mehr Fragen hatte, als sie mir beantworten konnte. Gertrude Meyer-Jörgensen war – wie man sich vorstellen kann – irritiert von dem Manuskript. Vor allem von dort auftretenden Menschen, die in ihrem Leben nie existiert hatten. Aber sie hat sich persönlich für eine Veröffentlichung eingesetzt und war damals genauso erfolglos wie ich. Sie starb hochbetagt 2011.
Sie trieb vor allem die Frage an: Wie bewahrte die Protagonistin ihre Selbstachtung, obwohl sie so lange der Willkür anderer ausgeliefert war?
Ich glaube, dazu gibt das Lesen des Romans jedem eine andere Antwort. Mich hat an Gudrun überrascht, dass sie häufig auch in aussichtslosen Situationen etwas Handlungsspielraum für sich sah. So stellte ich mir die Frage: Was hat sie stark gemacht für Entscheidungen, die ihre Selbstachtung bewahrten? Antwort: Sie war ein respektiertes Kind gewesen, dem die Eltern weitgehend seinen eigenen Kopf gelassen hatten. Und es gab diese durch nichts zu erschütternde Jugendliebe von Gudrun und Martin. Die beiden waren einfach füreinander geschaffen. Ich glaube nicht, dass es viele Menschen gibt, die mit der ersten Liebe über Jahre so viel Glück erfuhren. Gudrun machte die Erfahrung: Martins Liebe blieb, auch als sie getrennt wurden. Sie hat ihr den Rücken gestärkt. Und noch etwas hat ihr gutgetan und dafür gesorgt, dass sie den Kopf oben behielt. Sie war nicht immer wie eine nette junge Frau. Manchmal hat sie es Menschen heimgezahlt, die sie gedemütigt hatten. Da hat sie sich einiges einfallen lassen.
Von der Sachbuch- zur Romanautorin: Wie erlebten Sie diesen Wechsel? Wurde Ihre Gefühlswelt viel stärker beansprucht?
Ja sicher. Es gab während meiner Arbeit am Roman immer wieder Phasen des engen Zusammenlebens mit meinen Figuren. Ich kann Ihnen sagen: Da lernt man sich gut kennen. Sie waren die letzten, mit denen ich sprach vor dem Einschlafen, und die ersten nach dem Aufwachen. Immer nur einige Wochen durfte so eine Phase dauern, denn daneben war kaum für etwas anderes Platz. Man will ja seine Familie und Freunde nicht durch Abwesenheit überstrapazieren.
Buch
Sabine Bode
«Das Mädchen im Strom»
350 Seiten
(Klett-Cotta 2017).