Er trottet die Poststrasse hinauf. Das dunkle Fell glänzt. Die hellen Augen leuchten. Der Granit ist regennass, die Strasse leer. Tauben schlafen auf den Dächern. Sein Spiegelbild streift über die gläserne Eingangstür der Bank. Er nähert sich dem Abfallkübel, der an der nächsten Hausecke steht. Schnuppert am Boden. Hebt den Kopf. Es riecht nach Fleisch.
Der Weg war lang. Vom Kunkelspass über Tamins und Domat/Ems. Bei Felsberg über den Rhein. Jetzt hat er Hunger. Er steigt mit den Vorderpfoten den Kübel hoch, leckt am Papier, zupft daran, bis es herunterfällt. Er verschlingt den halben Hamburger, ohne zu beissen. Beim Kantonsgericht biegt er nach rechts ab zum Fontanapark, vorbei am Verbotsschild für Hunde. Buchsrabatten sind geometrisch angeordnet. Dazwischen Blumendreiecke. Alte Bäume ragen in die Höhe. Über dem Calanda eine Ahnung von Mond. In der Mitte des Parks hat es eine kleine Wiese. Ein heller Kreis. Er setzt sich hin, streckt die Nase in die Höhe und heult.
Sie kommen von allen Seiten. Hinter den kubisch zurechtgestutzten Stauden hervor. Tappen über die Kieswege. Es sind etwa zehn. Sie sind heller. Sie gehen auf den Schwarzen zu. Die einen winseln, legen die Ohren an, halten den Kopf gesenkt. Sie setzen sich zum Schwarzen. Und heulen mit.
«Hast du das gehört?» Seraina hebt ruckartig den Kopf und schaut zu Martin. Er macht keinen Wank, hat ihr den Rücken zugewandt.
«Jetzt! Schon wieder!» Sie setzt sich auf und rüttelt an seiner Schulter.
«Was ist denn? Es ist doch noch gar nicht hell.»
«Hörst du das denn nicht?» Sie zündet die Nachttischlampe an.
«Was machst du denn?» Er zieht sich die Bettdecke über den Kopf.
«Da ist etwas.» Sie steht auf und tritt ans Fenster. Die Stadt wirft helles Licht an den Himmel. Dahinter liegt der Calanda. Ein schwarzer Klotz.
«Jetzt komm schon wieder ins Bett.» Martin hat den Kopf gedreht und blinzelt sie an.
«Ich glaube, das sind Wölfe.»
«Was?» Er reibt sich die Augen.
«Sie sind vom Calanda heruntergekommen.» Sie macht eine schwungvolle Bewegung mit dem Arm.
Martin schüttelt den Kopf. Verdreht die Augen.
Seraina schaut weiter in die Nacht.
«Könntest du bitte das Licht wieder löschen?»
Sie wendet sich vom Fenster ab. «Das ist wieder typisch.»
«Wie?» Martin dreht sich auf den Rücken, stützt sich auf seine Unterarme.
«Dich geht das alles gar nichts an. Wie immer.»
«Wieso sagst du das jetzt?» Martin scheint etwas wacher.
«Weil es so ist.»
«Aber Seraina, es ist 3 Uhr morgens und du erzählst etwas von den Calanda-Wölfen, die du angeblich gehört hast. Das ist schon etwas schräg, oder?»
«Dann halt nicht. Ich bin es mir ja gewohnt.»
«Was bist du dir gewohnt?»
«Dass es dich nichts angeht.»
«Das hast du bereits gesagt.»
«Mir kommt es vor, als wären wir zwei Eier.»
«Wie?»
«Ich in meinem Ei und du in deinem. Umgeben von einer harten Schale. Schall- und blickdicht.»
«Das ist mir jetzt zu blöd.» Er legt sich wieder hin. Dreht sich auf die Seite. Zieht das Kopfkissen unter seinem Kopf zurecht. Seraina setzt sich auf die Bettkante. Und starrt in die Nacht.
Anna öffnet die Augen, ist hellwach. Irgendetwas hat sie geweckt. Es klang wie ein Heulen. Oder hat sie es nur geträumt? Sie zieht sich an, die Kleider von gestern, die Turnschuhe. Die Tasche liegt oben auf dem Schrank. Sie füllt sie mit dem Wichtigsten. Doch was ist das Wichtigste im Leben? Sind es die Dinge oder die Erinnerungen, die mit den Dingen verbunden sind? Sie legt alles aufs Bett. Die Dinge, die Erinnerungen, ihr Leben. Was hier lassen und was mitnehmen? Sie packt den Wollpullover ein, den ihr die Mutter gestrickt hat. Das Kleid, das sie zur Konfirmation getragen hat. Den Stein in Herzform. Und Socken und Unterwäsche und ihre Jeans. Schnell stopft sie alles hinein, deckt mit dem Alltäglichen die Erinnerungen zu. Dass der Vater ausgerastet ist, als er sie und Habte zusammen erwischt hat. Dass die Mutter seitdem nicht mehr mit ihr spricht. Sie hebt die Tasche auf, schleudert sie durchs Zimmer. Draussen im Gang geht das Licht an. Der Lärm muss die Eltern geweckt haben.
Beno wundert sich über die vielen Hundehaufen. Hatte dieser Depp von Gian am Abend etwa wieder vergessen, das Tor zum Park zu schliessen? Er nimmt die Schaufel und balanciert jeden einzelnen der haarigen Klumpen in den Wagen. Dann blickt er auf die Uhr. Neun. Zeit für das Znüni. Er setzt sich auf eine der Holzbänke und packt das Käsesandwich aus, das er heute morgen in aller Frühe gemacht hat. Kauend blickt er auf einen weiteren dunklen Haufen. Den muss er übersehen haben. Doch der Klumpen scheint sich zu bewegen. Er geht näher heran. Schmetterlinge klappen ihre farbigen Flügel auf und zu. Als er sich bückt, fliegen sie davon. Das würde er auch gerne. Er denkt an den Brief in seiner Hosentasche, den er seit ein paar Wochen bei sich trägt. Ein Brief von Erna aus Kanada. Er lässt den Wagen stehen. Und geht.
Sabina Altermatt
Die Autorin ist 1966 in Chur geboren und aufgewachsen. Heute lebt sie in Zürich, pirscht aber regelmässig durch Graubünden auf der Suche nach Geschichten. Sie schreibt Hörspiele fürs Schweizer Radio und Romane für verschiedene Verlage, ab und zu auch ein Buch für Kinder. Für ihr literarisches Schaffen hat sie zahlreiche Auszeichnungen und Stipendien erhalten. Die Calanda-Wölfe hat sie bis heute weder gehört noch gesehen.
www.sabina-altermatt.ch