Die Türe zur Garderobe steht schon offen, das Interview ist vorbei, da hebt Rudolf Buchbinder nochmals – halb scherzend, halb väterlich – den Zeigefinger und sagt: «Zuerst das Zweite, dann das Erste! Immer.»
Zur Erklärung: Der Pianist spielte tags darauf in Zürich gleich beide monumentalen Klavierkonzerte von Johannes Brahms: Das erste nach und das zweite vor der Pause. Eine Mordsleistung, die der 64-jährige Buchbinder mit Bravour meistern sollte. «Claudio Arrau hat das im
hohen Alter gemacht», so Buchbinders Kommentar. «Ein Soloabend ist viel anstrengender. Da gibts keine Orchesterstellen, bei denen ich mich ausruhen kann.»
Kammermusik zuerst
Buchbinder sitzt locker auf dem Sofa im Künstlerzimmer, parliert in elegantem Wienerisch, bisweilen weiss er schon bei halb gestellter Frage, was er antworten wird. Er ist ein böhmisch-österreichischer Künstler, der um seinen Stellenwert weiss. Und doch steht im Lebenslauf auf seiner Homepage als erster Satz bescheiden: «Rudolf Buchbinder begann seine umfassende Karriere als Kammermusiker.» Bei anderen heisst es meistens: « …debütierte als 10-Jähriger in der Carnegie Hall …»
Buchbinder hatte diese Erlebnisse auch. Die Wiener Hochschule reichte ihn schon früh stolz herum. Mit 12 Jahren spielte er in kurzen Hosen im Wiener Musikverein Beethovens Klavierkonzert. Doch die Kammermusikerfahrungen stellt er in den Vorder-, die Wettbewerb-Siege in den Hintergrund. Und apropos Carnegie Hall sagt er gelassen: «Ich habe dort oft genug gespielt. Ich versuche mit der Aussage in meinem Lebenslauf, den Jungen nahe zu bringen, wie wichtig die Kammermusik ist. Und wie wichtig es ist, anderen Kollegen zuzuhören.»
Kurz vor Buchbinder stiegen im Wien der 50er-Jahre zwei heutige Legenden auf: Paul Badura-Skoda und Friedrich Gulda. Ihr gemeinsamer Lehrer war Bruno Seidlhofer, bei dem auch Martha Argerich und Nelson Freire studierten. Gerade deswegen will Buchbinder nichts hören von einer Wiener Schule, die er vermeintlich geradezu verkörpern soll. «Gulda, Argerich, Freire, meine Wenigkeit: Was zeichnet uns aus?», fragt er. «Dass wir völlig verschieden sind! Bruno Seidlhofer gab seine Impulse, liess aber jedem seine Individualität. Es war keine Schule mit Uniform, in der alle gleich spielen. Gott sei Dank.»
Und so ist aus dem Kammermusiker ein von New York bis Tokio geschätzter Solist geworden. Warum, kann er durchaus erklären. «Ich bin seit 50 Jahren auf der Bühne und versuche, mein Niveau zu halten. Mein Glück war es, nie eine Sensation gewesen zu sein. Eine Sensation kann man nie wiederholen, ich wurde nie hinaufgeschossen, bin stetig gestiegen. Wer im Alter den Höhepunkt erlebt und nicht schon mit 30, macht eine ideale Karriere.» Dass er älter und die Dirigenten an seiner Seite immer jünger werden, findet er eine schöne Entwicklung.
Kollegialität zählt
«Es ist gut, wenn junge Dirigenten Chancen erhalten – allerdings nicht ungefährlich. Wenige können den Verlockungen des Marktes widerstehen.» Und so lobt er David Zinman, den Chefdirigenten des Zürcher Tonhalle-Orchester, da dieser Zeit für sein Orchester habe. Dennoch: «Ich spiele oft mit Gustavo Dudamel. Er ist einer der talentiertesten Jungdirigenten. Und auch Robin Ticciati ist fantastisch.»
Auf den Einwand, dass er der Vater dieser zwei Dirigenten sein könnte, sagt er: «Das macht nichts. Vielleicht habe ich auch deswegen zu meinen eigenen Kindern ein spezielles Verhältnis, weil es beim Musizieren keine Hierarchie gibt wie in einer Bank oder Versicherung. Ein Achtzigjähriger ist genauso Kollege wie ein Zwanzigjähriger.»
Festival von Grafenegg
Da Rudolf Buchbinder seit 2007 das Festival von Grafenegg in Niederösterreich betreut, hat er zu den grossen Dirigenten
auch als Festivalleiter Kontakt. Alle kommen sie: Harnoncourt, Welser-Möst, Gatti, Nelsons, Nagano und viele andere. Zu «Rudi», wie der Pianist in Wien heisst. «Es gibt kein Festival der Welt, das so viele grosse Orchester bietet.»
Den scheuen Einwurf «Aber das Lucerne Festival …» wischt er geradezu physisch vom Tisch: Höchstens ausserhalb Europas gäbe es so etwas, dort würden Künstler aber mit Geld angelockt. Ums Geld, sagt er nonchalant, kümmere er sich nicht. Zudem (miss)braucht er das Festival nicht, um sich eine Plattform zu schaffen. «Ich will mich
nicht selbst zur Schau stellen.» Das übernehmen nur zu gerne die anderen Konzertveranstalter, wenn der Wiener bei ihnen auftritt.
[CD]
Johann Strauss II:
Waltz Transcriptions For Piano
(Teldec 2010).
Brahms: Piano Concerto No. 1 und
No. 2 (Teldec 2000).
W.A. Mozart: Klavierkonzerte
(Euroarts 2006).
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