Silberstein wohnt jetzt seit fast einem Jahr bei uns. Er ist ein fantastischer Gast, nur müssen wir täglich unsere Kerzenständer aus seinen Zellophanfolien zurückerobern. Silberstein, unser Goldbrüderchen mit dem kupferfarbenen Haar – jeden Morgen geht er zunächst zu den Mönchen unter uns, denen das Recht zugestanden ist, in aller Herrgottsfrühe mit einem Karren voller auf verschiedene Käfige verteilter Hühnerhähne das Viertel zu wecken, beziehungsweise das Erwachen anzuregen.
Silberstein betet die Laudes im Gehen, dies aber still, um die Hähne in ihrem Gesang nicht zu stören. Kurz bevor sich die aufgehende Sonne ganz vom Horizont löst, entnimmt er dem Beutel, der seitlich an seinem Kartäuserrock hängt, einen Apfel, den er so oft vor sich in die Luft wirft, bis sich einen Moment lang die Sonne seinem Blick entzieht. Silberstein greift nie auf die Orange zurück, von der sich immer ein essbares Exemplar in Silbersteins erwähntem Beutel befindet.
Silberstein brachte uns bei, einander zur Begrüssung mit Daumen und Zeigefinger links und rechts an den Wimpern zu zupfen und dabei die Lider zu berühren. Wir tun das gerne, aber zugestandenermassen nur deswegen, weil wir nicht wissen, was Silberstein damit verbindet.
Silberstein hat eine eigenartige Wirkung auf unser Zeitempfinden. Immer, wenn er von einer Besorgung wiederkommt, haben wir das Gefühl, ihn sehr lange nicht gesehen zu haben. Silberstein kommt, sieht und silbert uns. Mit seinem energetischen Blick, mit weichen Gesten oder einigen wenigen Wörtern aus seinem generalischen Mund.
Noch glauben wir, Silberstein wird uns erhalten bleiben. Von den zweiundzwanzig Mänteln, die an den Nägeln im Vorhaus hängen, gehören neun ihm. Ihm, wie Silberstein sagt, und der Nacht.
Dass wir immer wieder auf Silberstein zurückkommen, hängt damit zusammen, dass er uns an Kaschoff erinnert, der zuvor bei uns gewesen war, ich weiss nicht wie lange.
Und ich weiss auch nicht mehr, mit wem.
Nachdem Silberstein die Sonne geapfelt hat, bürstet er die Kutten der nun am Bordstein hockenden Mönche, die ihren neuen, noch im Dunkel mit ihnen erwachten Ichs lauschen. All die Flusen und Haare und Staubflocken. Das äusserste Ende des inneren Herrschers, wie es die Mönche nennen.
Das innere Ende liegt, denken wir, nicht weit weg von Silberstein, wenn er auf dem Boden liegt, über sich die gekreuzten Arme von fünf unserer gemeinsamen Freundinnen, weil er am Ende einer Woche nicht anders einschlafen kann. Wenn er da so liegt, noch mit Tränen in den Augen vom gemeinsamen Lesen in «Morbus Kitahara», liegt nichts Silbernes in seinem Blick, kurz bevor dieser ganz in sich selbst hineinfällt, fällt und fällt und fällt im Saal mit dem Waschbecken mit den drei Salzwasserhähnen.
Wir hatten ihn vorausgeahnt, irgendwie. Und wir hatten das Buch selbst abgeschrieben, da Silberstein nicht anders als «von der Hand» lesen will. Vielleicht taten wir das alles, weil wir herausfinden wollten, wie er aus seinem Wir herausgekommen war. Wie er sich hatte entwinden können.
So wirr klar.
Es war schnell so weit gekommen, dass wir, wenn wir nicht wussten, was zu tun war, an Silberstein dachten. Oder wenn wir uns kaum bändigen, mässigen, halten konnten – was vorkam. Unsere Tage waren unregelmässig schlagende geschlagene Herzen.
Aber zurück zu Silberstein. Zurück zum auf uns abfärbenden Silbersteinsein.
Silberstein schält Kirschen und Silberstein summt und Silberstein hat einen Farbfächer, dem wir verdanken, immer auf dem Laufenden zu sein, was die Farben des Himmels betrifft, der Pflanzen und Steine.
Silberstein kommt immer als Erster frei.
Er agiert für uns den Politikteil der Zeitung. Er singt Ägyptisch mit nordfranzösischem Akzent. Er geht für uns hinaus, um die Kolumbianer pro Parkbank zu zählen. Sodass wir wissen, wann der Sommer beginnt.
Gern versammeln wir uns, um uns von seinem Karmazeptor aufnehmen zu lassen. Auf dem Dach unseres Hauses, das er für uns bewaldet hat.
Was mochten, mögen wir noch an Silberstein? Dass er Rollkofferkonzerte mit den Kindern aus der Nachbarschaft veranstaltet? Vielleicht. Seine aerodynamische Kopfform? Oh ja. Seine Sinn-Emissionen während der mitternächtlichen Teestunde? Unbedingt.
Dem Oberhaupt schrieben wir: Dieser kann mit den Händen lachen. Dieser ist unendlicher als wir selbst. Dieser hat einen Namen.
Morgen wird er uns endlich verlassen.
Ron Winkler
Ron Winkler wurde 1973 in Jena geboren. Sein Studium der Germanistik und Geschichte hat er mit einer Monografie zu Durs Grünbein abgeschlossen. Er lebt als Lyriker, Übersetzer und Herausgeber in Berlin. Kürzlich hat er im Müllerhaus des Aargauer Literaturhauses in Lenzburg einen
dreimonatigen Atelier-Aufenthalt verbracht. Zuletzt sind von ihm der Gedichtband «Prachtvolle Mitternacht» und die lyrischen Postkarten «Zuwendung in Zeichen» erschienen.