Manche Entscheidungen geben dem Leben eine richtungsweisende Wendung – und nichts ist mehr wie zuvor. Um solche Momente geht es sowohl im Buch der US-Autorin Miranda Cowley Heller als auch im Roman der Zürcher Schriftstellerin Milena Moser.
Cowley Hellers «Der Papierpalast», der zum «New York Times»-Bestseller wurde, zoomt auf das Leben von Elle Bishop, einer Frau in ihren Fünfzigern: Mit ihrem Ehemann Peter und den drei Kindern verbringt sie ihre Sommerferien wie jedes Jahr im «Papierpalast», einem etwas altersschwachen Sommerhaus an einem See in den Backwoods von Cape Cod im US-Bundesstaat Massachusetts.
Liebevoller Ehemann oder leidenschaftliche Affäre?
Zu Gast ist ihr Jugendfreund Jonas mit seiner Frau. Mit ihm verbindet Elle eine lange Geschichte – und ein dunkles Geheimnis aus Jugendzeiten, das sich erst am Schluss auflösen wird. Ihre gegenseitige Anziehung haben die beiden stets unterdrückt, bis es in diesen Sommertagen zur heimlichen Affäre kommt. Auf rund 450 Seiten läuft alles auf diese eine Entscheidung hinaus: liebevoller Ehemann und Familienvater oder leidenschaftliche Affäre und Herzensmensch? Im Wechsel zwischen Gegenwart und Rückblenden erzählt Elle ihre Lebensgeschichte, in der sich nach und nach herauskristallisiert, warum sie und Jonas nicht zueinanderfinden konnten.
Die 60-jährige, in Kalifornien lebende Autorin hat die Sommer der Kindheit und Jugend selbst auf Cape Cod verbracht und beschreibt die besondere Atmosphäre detailreich. Miranda Cowley Heller versteht ihr Handwerk: Packende Cliffhanger und süffige Geschichten, die bis zum Schluss nicht loslassen, hat sie auch als Verantwortliche beim Fernsehprogramm-Anbieter HBO entwickelt, etwa mit den Kultserien «Die Sopranos», «Six Feet Under» oder «The Wire». Auch ihr erster Roman «Der Papierpalast» birgt viel Serienstoff in sich: Nebst sommerlicher Leichtigkeit, verbotener Liebe, Leidenschaft und Geheimnissen thematisiert sie auch die Traumata einer Frau, die in einer dysfunktionalen Familie aufgewachsen ist. Tatsächlich ist bereits eine Verfilmung in Planung, das Drehbuch schreibt Miranda Cowley Heller selbst.
Milena Mosers Spiel mit Möglichkeiten
Um die Möglichkeiten und Scheidewege im Leben einer Frau geht es auch in Milena Mosers üppigem Bestseller «Mehr als ein Leben». Während Miranda Cowley Heller packend, aber eher konventionell erzählt, wählt die in San Francisco lebende Zürcher Autorin eine raffiniertere Erzählweise: Ihre Protagonistin Helen wächst mit einer Alkoholikerin als Mutter in prekären Verhältnissen auf. Ihr Fels in der Brandung ist schon seit Kindergartentagen ihr Freund Frank, der im selben Haus lebt und treu an ihrer Seite steht, egal, was passiert. Um diese beiden Figuren webt Milena Moser Helens Lebensgeschichte in zwei Varianten, die sie im steten Wechsel kunstvoll miteinander verknüpft. Denn als Zehnjährige steht Helen vor einer schweren Entscheidung: Soll sie ihre trinkende Mutter verlassen, um bei ihrem Vater und dessen neuer Frau zu leben? Oder unterstützt sie ihre Mutter weiterhin bedingungslos und verpasst eine unbeschwerte Kindheit?
Milena Moser spinnt beide Varianten weiter und malt sich aus, wie die jeweilige Entscheidung das Leben von Helen beeinflusst hat. Wird sie zur psychisch angeschlagenen Mutter Elaine in der Schweiz oder zur freiheitsliebenden, manchmal etwas einsamen Auswanderin Luna in San Francisco? Die Autorin spielt mit diesen zwei Möglichkeiten, gewisse Szenen überschneiden sich in beiden Lebensentwürfen, und zuweilen lässt sie die Vorausahnungen der Protagonistin einfliessen, die sich wiederum mit dem anderen Lebensentwurf decken. Dieses Spiel mit den Möglichkeiten vermittelt Moser trotz komplexer Dramaturgie in einer grossen Leichtigkeit.
Helens individuelles Schicksal verwebt Moser zudem im gesellschaftlichen Kontext. Etwa wenn es um die überhöhten Erwartungen geht, die an Mütter gestellt werden. Berührend auch die Szene, in der Luna in den 1980er-Jahren auf einer Aids-Station in San Francisco arbeitet und Patienten, die aus der Gesellschaft ausgestossen wurden, in den Tod begleitet.
Von Ausbrüchen und verpassten Chancen
Für ihre Bücher wünscht sich Milena Moser, «dass man sie aufschlägt und hineinfällt», wie sie in einem Interview mit SRF sagte. Genau so ergeht es den Leserinnen mit «Mehr als ein Leben». Was wäre gewesen, wenn …?: Diese Frage hat sich wohl jeder schon mal gestellt, und Moser treibt sie in ihrem Roman auf die Spitze. In ihrer Geschichte spürt sie unwiderruflichen Entscheidungen und verpassten Chancen nach, den Prägungen der Kindheit und möglichen Ausbrüchen aus einem vorgezeichneten Weg. Ihr Roman mündet in der Frage: Wie stark haben wir unser Schicksal selbst in der Hand, wie gelingt ein selbstbestimmtes Leben?
Zwei Bücher voller prallem Leben: Das bieten Milena Moser und Miranda Cowley Heller mit ihren beiden Romanen. Perfekte Ferienlektüre für den Strand oder die Berghütte. Denn wann hat man mehr Zeit, um in Geschichten abzutauchen und andere Lebensentwürfe kennenzulernen?
Bücher
Milena Moser
Mehr als ein Leben
560 Seiten
(Kein & Aber 2022)
Miranda
Cowley Heller
Der Papierpalast
Aus dem Engl. von Susanne Höbel
448 Seiten
(Ullstein 2022)