Ian McEwan hat die Geschichte von Kafkas «Die Verwandlung» umgekehrt gedacht. Der Käfer Jim Sams erwacht eines Morgens als britischer Premierminister: «Sein Verstand war so eingeengt wie sein Sichtfeld», beschreibt ihn der Schriftsteller in seiner neuen Novelle «Die Kakerlake». Die etwas beschränkte Auffassungsgabe des Sechsfüsslers prädestiniert ihn für seine politische Mission als überzeugter «Reversalist». Jim Sams und seine Gesinnungsgenossen wollen unter dem Titel «Reversalismus» den britischen Geldfluss umdrehen: Man erhält das Geld ausbezahlt, das man für eine Ware entrichten sollte. Ökonomen halten die Idee zwar für wahnwitzig, aber das Wahlvolk ist begeistert. Allein das zählt, sodass die «Reversalisten» Rückschläge in Kauf nehmen: «Was diese tapfere Truppe einte, war die Gewissheit künftiger Entbehrungen und Tränen, auch wenn es leider nicht ihre eigenen sein sollten», heisst es über Sams’ Kabinett. Dagegen kam keiner an: «Harter Reversalismus war Mainstream.»
Unterschiedlicher Zugang zum Thema Brexit
Ian McEwans Kurzroman ist eines der Bücher, die auf der Insel momentan unter «BrexLit» in den Gestellen der Buchhandlungen zu finden sind. Zwei andere Beispiele sind «Federball», der neueste Spionagethriller von John le Carré, oder «Herbst» der schottischen Schriftstellerin Ali Smith. Den drei Autoren ist gemeinsam, dass sie den Brexit für eine schlechte Idee halten.
Doch das ist die einzige Gemeinsamkeit, ihr Zugang zum Thema ist sehr unterschiedlich: Ian McEwan setzt auf die bitterböse Satire, der 88-jährige John le Carré in seinem Alterswerk auf Polemik, und die Feministin Ali Smith verwebt die politische Debatte in einen feinfühligen Beziehungsroman zwischen einem 100-Jährigen und einer jungen Frau. Bei Ali Smith illustriert der Brexit ein deprimierendes gesellschaftliches Umfeld, in dem die beiden Protagonisten gefangen sind: «Seit der Abstimmung ist gerade mal eine gute Woche vergangen … das Dorf ist missmutig gestimmt.» Ali Smith schreibt in «Herbst» sowie im Roman «Beides sein» von der Stärke der Liebe, die sich trotz aller Widrigkeiten zu behaupten vermag. «Herbst» ist übrigens das erste Buch eines geplanten literarischen Jahreszyklus von Smith. Stand der Dinge heute wird ihr der Brexit-Stoff in den folgenden Bänden nicht ausgehen.
Ian McEwan überzeichnet stark
Auch McEwans «Reversalismus» will erdauert sein, wobei er die politische Auseinandersetzung ebenso wie die Protagonisten massiv überzeichnet. Gerade darin liegt indes der Reiz der Geschichte. So schreibt er vom «Volksfeind» Benedict St John, dem Aussenminister in Sams’ Regierung, der nur scheinbar an den «Reversalismus» glaubt. Er hat deshalb keine Zukunft im Kabinett von Sams: Um das Ende von St John zu beschleunigen, hängt ihm der Premier einen getürkten Sexskandal an. Das reicht für den politischen Genickbruch.
John le Carré kehrt nach seinem letzten Roman «Vermächtnis der Spione» in die Gegenwart zurück. Der Geheimagent Nat kümmert sich auf einem langweiligen Nebenposten um russische Aktivitäten in London und spielt zum Ausgleich Badminton. Dabei lernt er Ed kennen, einen zornigen jungen Mann, der sich über den Brexit enerviert: «Ich bin der festen Überzeugung, dass Grossbritanniens Ausscheiden aus der Europäischen Union (…) für die liberale Demokratie auf der ganzen Welt das beschissenste Chaos ist, das man sich nur vorstellen kann.» Der unerschrockene Europäer Nat ist – ähnlich wie le Carré selbst – der Überzeugung, dass die Politik Richtung Faschismus steuert mit der tatkräftigen Unterstützung des US-Präsidenten Donald Trump. Der Leser ahnt, dass Nat seinem Sparringpartner bald im Spionagemilieu begegnen wird, und dort ist ja nichts so, wie es scheint.
John le Carré und die «Hard Brexiteers»
Die Absicht des Autors le Carré ist in diesem Buch klar. Er schreibt gegen die «Hard Brexiteers» an, gegen die Politiker, die Grossbritannien so schnell wie möglich aus der EU haben wollen – notfalls ohne Vertrag. Diese Botschaft baut er in eine gewohnt raffinierte Handlung ein mit verschiedenen Erzählsträngen: russischer Oligarch und geheime Brexit-Verhandlungen gehören dazu. John le Carré liefert mit «Federball» einen plakativen, aber spannenden Brexit-Beitrag.
Ali Smith bringt Aldous Huxley ins Spiel
Die Autorin Ali Smith dagegen sieht in «Herbst» die politische Entwicklung in Grossbritannien in einem grösseren Zusammenhang. Sie erinnert an den Wandel der Gesellschaft und erweist etwa der Pop-Künstlerin Pauline Boty die Reverenz, die in den frühen 1960ern als eine der ersten den kulturellen Aufbruch aus den verkrusteten Strukturen propagierte. Ali Smith lässt ihre Protagonisten auch den Roman «Schöne neue Welt» von Aldous Huxley lesen als Hinweis, wohin die Reise gehen könnte.
McEwan, le Carré, Smith: Die Brexit-Debatte hat alle drei beflügelt. Sie machen ihrem Unmut Luft und unterhalten dabei die Leser so gut, wie es für politische Literatur nicht selbstverständlich ist.
Bücher
Ali Smith
Herbst
Aus dem Englischen von Silvia Morawetz
261 Seiten
(Luchterhand 2019)
Ian McEwan
Die Kakerlake
Aus dem Englischen von Bernhard Robben
112 Seiten
(Diogenes 2019)
John le Carré
Federball
Aus dem Englischen von Peter Torberg
352 Seiten
(Ullstein 2019)