Ich bin nach Genua gezogen, wo ich täglich die Trattoria da Maria besuchte, dort habe ich Michelino kennengelernt, den kleinen Michelino, er müsste Michelinuccio heissen, denn der Typ mit dem Gerät am Kehlkopf, das seine Stimme metallisch klingen lässt, heisst auch Michelino, er ist der Padrone des kleinen Michelino, der ein Hund ist, ein krummbeiniger Köter mit einem weichen Köpfchen, Glubschaugen und groteskem Unterbiss, alienartig starrte er mich an, das Köpfchen wackelte beständig, die Augen aufgerissen, er hätte auch böse sein können, ein böser Michelino, der nicht knurrt, aber mich ohne Umschweife in die Hand beisst, sich meine gefüllte Artischocke schnappt und in den ersten Stock abhaut, um dort vor der Kellnerin zu kacken und zu jaulen und um, wenn er verjagt würde, schrecklich zu stürzen, sich das Hinterbein zu brechen, alle würden schreien, Michelino, tesorino, unser Lieblingshund, du Augenstern der Stadt, der einzige Hund, der nie stinkt, das darf doch nicht wahr sein, was hat die Fremde, diese Svizzerina, bloss mit dir gemacht, jeden Tag sitzt die da, isst Unmengen, geht, kommt, schaut, spricht mit allen, das ist doch seltsam, auffällig ist das, so gut sind die Ravioli nun auch wieder nicht, nicht einmal hausgemacht, früher, als Maria noch lebte, ach, die Gute, damals waren die ravioli al magro fatti a mano, mit pesto oder sugo oder ai funghi, klar, aber jetzt, Massenware, mit der cima ist das anders, der Reststolz, aber der Hund hat ja keine cima vom Teller gestohlen, nur etwas Vegetarisches, eine Beilage, sind wir ehrlich, die hätte die Fremde ihm doch überlassen können, ohne so schockiert zu tun und mit dem Fuss auf den Boden aufzuschlagen, ihr Blick und dieser Krach haben den kleinen Michelino in die Flucht geschlagen, vor Angst musste er kacken, der Arme, Gott, wie sind Hunde doch sensibel, Seismografen der Gesellschaft, die merken einfach alles, jede Regung, der Padrone weiss das auch, er würde den Leuten erzählen, wie Michelino ihm damals, 1976, das Leben gerettet hat an diesem stürmischen Abend, es war ein Mittwoch, 18.30 Uhr, alle hörten gebannt zu, damals war jeder Hund besser als heute, oder, um nicht zu hart zu sein, anders, die Hunde waren anders, sie hatten Charakter – und einzig der unermüdliche Michelino hatte es geschafft, diese Eigenschaft ins Jahr des Herrn 2021 hinüberzuretten, er hatte die alten Hundetugenden, bewahrte sie, ehrte sie, hätte sie gerne weitergegeben an Michelinuccio junior, aber dieses Glück war ihm nicht beschieden, er würde, wenn der grosse Michelino tot war, und das konnte schnell gehen bei dem Lebenswandel, an dessen Grab sitzen und nichts mehr fressen, auch keinen bollito misto mit salsa verde vom da Maria, den man ihm lauwarm, in Alufolie verpackt, bringen würde, er tränke nichts, das reinste Wasser würde er ablehnen, San Pellegrino, alles, nicht, weil ihm niemand Futter reichen, nicht weil ihm niemand einschenken würde, alle würden ihm Futter reichen, alle würden ihm einschenken wollen, auch die zu Tränen gerührten Journalisten und Politikerinnen, die aus dem ganzen Land anreisten, um über Michelino, den trauernden Hund, zu berichten und sich mit ihm ablichten zu lassen, natürlich nur tagsüber, Blitzlicht ertrug das ausgezehrte Tier schlecht, wie es auf dem Grab sass und wachte, ohne zu heulen, kein einziger Fieps bis zu Tag vierzehn, wenn er umkippen würde wie eine Statue, im Tod wäre er nicht mehr der kleine Scheissköter, nein, Hund der Hunde, der ein Leuchten über den Friedhof brachte, es entschwände in Richtung Meer und ginge ein in den grauen Horizont, wie einst die mächtigen Genueser Schiffe, so würde sich Michelino mit der Geschichte des Ortes verbinden und tief in die Erinnerung dieser und der kommenden Generation dringen – und der übernächsten, die Menschen würden sich erzählen, wie sich der Charakter von Michelino bereits im August 2021 abgezeichnet hatte, als er Kontakt aufnahm mit einer geheimnisvollen Frau aus den Alpen, einige hielten es für wahrscheinlich, dass es die Mutter Gottes gewesen war, schliesslich sass sie im da Maria, sie hatte gegessen, als wäre die gefüllte Artischocke Lichtnahrung, und sie konnte mit Tieren reden, aber noch fast überraschender war, dass auch Michelino mit dem Mensch gewordenen Göttlichen kommunizierte, er hatte nämlich verzückt dagesessen, sie hatte ihm vom Brot gereicht, das sie vorher in den Rotwein getunkt hatte, eine Artischocke dazugelegt, kein Fitzelchen Füllung für sich behalten, also stieg Michelino in höhere Sphären auf, er schritt die Treppe hinan, tat, was Hunde tun, um zu zeigen, auch ich bin ein Hund unter Hunden, einer von euch, er streifte um alle Beine, und jeder, der Schmerzen hatte, von Krampfadern bis zu übernutzten Gelenken, war kuriert, der Schmerz wie fortgeblasen, fortgehechelt, und der kam nie wieder, im ganzen Leben nicht, aus Erschöpfung hatte Michelino sich die Treppe runterfallen lassen, in die Arme der wundersamen Fremden, die ihm etwas zuzuflüstern schien, Michelino nickte und war danach nie mehr der gleiche, sondern ein anderer, er war schon vorher – nach der Kommunion – nicht mehr der gleiche gewesen, der Heilerhund, aber nun hatte er seine Mission bestätigt, er wurde gefirmt, indem er sich zurückbegab in die Arme Marias, die sogleich entschwand, nicht ohne Michelino auf einen hellgrünen Regenschirm zu betten, aus dem Abfalleimer hatte sie den weichen Schirm gezogen, jemand musste den Schirmständer mit dem Abfalleimer beim Eingang verwechselt haben, auch das eine Metapher für den Tag der Wunder, der nur in dieser einen Trattoria möglich war. Da Maria.
Romana Ganzoni
Romana Ganzoni (*1967) ist in Scuol im Engadin aufgewachsen und hat in Zürich Geschichte und Germanistik studiert. Sie hat 20 Jahre lang an Gymnasien unterrichtet, seit 2013 ist sie als freie Schriftstellerin tätig. Kürzlich sind ihr Roman «Magdalenas Sünde» und das von Ekaterina Chernetskaya illustrierte Kinderbuch «Die Bienenkönigin» erschienen. Romana Ganzoni lebt mit ihrer Familie im bündnerischen Celerina.