Louis Soutter (1871–1942) war ein aussergewöhnlicher Mensch mit einem schwierigen Leben, der ein beeindruckendes Werk hinterliess: ein Mensch vielleicht, der zur falschen Zeit am falschen Ort lebte, der mit sich und dem Leben nicht zurechtkam und schliesslich ein Dasein am Rande der Gesellschaft fristete. Der Schweizer Schriftsteller Lukas Hartmann ist den Spuren dieses eigenwilligen Aussenseiters gefolgt und hat versucht, ihm und seiner Kunst näherzukommen. Eine Herkulesaufgabe, die nur ein Meister der Empathie, wie Lukas Hartmann einer ist, bewältigen kann. Nach intensiver Recherche hat der Autor ein Jahrhundert zurückgeblendet und mit viel Respekt und Einfühlungsvermögen das Leben eines hochsensiblen, exzentrischen Mannes ausgeleuchtet, der mit seiner expressiven Malerei nicht in diese Zeit zwischen den Kriegen passen wollte.
Erst mit dem Pinsel, dann mit den nackten Fingern
Louis Soutter, der aus einem grossbürgerlichen, gebildeten Elternhaus in Morges stammte, studierte mit 21 Jahren in Brüssel Musik, später in Genf Malerei. 1897 heiratete der damals 26-Jährige seine Studienfreundin Madge, übersiedelte in die USA und leitete die Kunstabteilung am Colorado Springs College. Bereits sechs Jahre später kehrte er in die Schweiz zurück. Physisch und psychisch angeschlagen. Danach sollte er es nicht mehr schaffen, im Leben richtig Tritt zu fassen. 1923, mit nur 52 Jahren, wurde er unter Vormundschaft gestellt und ins Altersheim von Ballaigues im Waadtländer Jura abgeschoben, wo er bis zu seinem Tod 1942 lebte. Und malte.
Hier beginnt der Roman «Schattentanz» von Lukas Hartmann: in diesem Heim, wo Soutter inmitten von ehemaligen Knechten und Mägden, von Trunkenbolden und beschränkten Geistern 20 Jahre lang seine Gedanken, Gefühle und Visionen zu Papier bringt. Erst mit dem Pinsel, und als seine Hände wegen seiner Arthritis ihren Dienst versagen, mit den nackten Fingern. Hunderte von Zeichnungen fertigt er an. Bilder, die «ohne Plan gewachsen waren aus der Bewegung des Stifts heraus, dem die Finger folgten, denen der Verstand hinterherhinkte, der dann für das, was entstanden war, geheimnisvolle Titel fand, die Louis in steiler Schulschrift irgendwo setzte, wo noch Platz war: ‹Tanagara›, ‹Jungfrauen von Gruyère›, ‹Unter Nackten›, ‹Wir leiden unter der Liebe›.»
Der berühmte Cousin Le Corbusier
Niemand versteht Soutters expressionistische Malerei, selbst sein berühmter Cousin Le Corbusier nicht, der in Lukas Hartmanns Roman eine zentrale Rolle einnimmt. Der Architekt besucht Soutter immer wieder im Heim und interessiert sich für seine Malerei. Er weiss sie am besten einzuordnen, auch wenn er sie letztlich nicht ganz versteht. Vor allem Soutters politische Haltung gefällt ihm nicht. Der belesene Maler lehnt Mussolini ab, der Architekt hingegen ist fasziniert von dessen Macht. Le Corbusier ignoriert gefliessentlich, dass Soutter die Schrecken des Krieges vorauszuahnen scheint, auch als er eines Tages prophezeit: «Ganz Europa wird von Toten übersät sein. Das erscheint mir in Albträumen, Cousin, und ich kann sie nicht vertreiben.»
Mutter, Schwester und Bruder sind da schon längst tot. Hartmann lässt sie im Roman allerdings in separaten Kapiteln über das Leben und Wesen Louis Soutters erzählen. Auch sein ehemaliger Geigenlehrer und die Direktorin des Heims, aber auch Louis selbst kommen zu Wort. Oder der Maler Pierre Estoppey (1911–2006), der Louis Soutter als «eine finstere Art von Genie» bezeichnet. Daher sei es nicht verwunderlich, dass die Welt von ihm nichts wissen wolle. Erst 1939 übrigens wird Le Corbusier bewusst, was sein Cousin schon Jahre zuvor als unaufhörlich wachsender Reigen von Schattenfiguren in seiner Malerei zum Ausdruck brachte: «ein endloser Totentanz (…) Blatt um Blatt, ein Tanz, der nicht nur Leid, sondern ebenso Lebensgier ausdrückte».
So legt man das Buch von Lukas Hartmann nur ungern zur Seite, man hätte Louis Soutter ein besseres Ende gegönnt: Die Begegnung mit ihm war traurig, seine Geschichte bewegt, und seine Bilder bleiben in den Träumen haften. Ein starkes Stück Literatur.
Fünf Fragen an Lukas Hartmann
«Entlang dem Doubs kam ich Louis Soutter am nächsten»
kulturtipp: Lukas Hartmann, 2002 haben Sie in einer Ausstellung im Kunstmuseum Basel zum ersten Mal Bilder von Louis Soutter gesehen und waren zutiefst beeindruckt. Nun, 18 Jahre später, haben Sie dieses Buch geschrieben und sprechen von einem Wagnis.Warum?
Lukas Hartmann: Ich war unsicher, ob es mir gelingen würde, mich dieser rätselhaften Person mit meinen Mitteln der Sprache und der Imagination nähern zu können. Aber vielleicht ist es ja gerade die Unsicherheit, die eine Annäherung spannend macht.
Wann haben Sie während der Entstehung des Buchs Le Corbusier an Bord geholt?
Schon sehr bald. Nämlich als mir klar wurde, in welchem Mass die beiden Personen völlig unterschiedliche Typen des Künstlertums verkörperten, den hochbegabten Opportunisten, der den Mächtigen gefallen wollte, und den sperrigen Einzelgänger, der gegen alle Widerstände seinem eigenen Weg folgte. Und mich hat fasziniert, wie lange die beiden Cousins trotz ihrer Unterschiedlichkeit voneinander angezogen waren.
Über viele Jahre hinweg gingen Sie Soutters Spuren nach, teilweise zu Fuss, auf Wegen, die auch der Maler gegangen ist. Wo kamen Sie dem Künstler am nächsten?
Ich glaube, auf den Wegen in den Wäldern und entlang dem Doubs, die Soutter so oft, gegen die Vorschriften des Heims, in tagelangen Märschen zurücklegte. Mich dort hinzusetzen und dem Fluss zuzuhören, hat mir geholfen, mich in Louis Sout-ters Wahrnehmung hineinzuversetzen.
Gab es Momente der Begegnung mit ihm als Romanfigur, die Sie verblüfften, überraschten?
Ja, der Moment, als er nach Jahren des Herumziehens entmündigt wurde und, nun schon 50-jährig, in völlig anderer Weise zu malen begann als während der Ausbildung als junger Künstler. Die Arthritis zwang ihn zum Malen mit den Fingern. Und gerade so entstanden seine suggestivsten Bilder.
Sie sind ein Meister darin, sich Menschen und ihrer Denkweise anzunähern, Personen und ihre Gefühlswelten zu rekonstruieren. Wo stiessen Sie bei der Arbeit an diesem Werk über diesen doch sehr speziellen Mann an Grenzen?
Immer wieder. Vor allem wenn ich mir vergegenwärtigte, woher er die Kraft nahm, in seinem kleinen Zimmer in Ballaigues während fast 20 Jahren ein solch riesiges und in sich geschlossenes Werk zu schaffen.
Lukas Hartmann
Schattentanz
256 Seiten
(Diogenes 2021)