Die Facetten der Liebe sind schier unendlich: «Sehnen, Brüten, Begehren, Schäumen und Träumen» – mit diesen Worten beschreibt der Schriftsteller Martin Amis sexuelles Verlangen. Nicht sein eigenes allerdings, sondern die Begierden seines Freundes, des Lyrikers Philip Larkin. Der Vollständigkeit halber fügt Amis gleich die Fotos von dessen Gespielinnen hinzu, inklusive Amis’ eigener Mutter.
Der 73-jährige Romancier Martin Amis hat nach eigenem Bekunden eine «romanhafte Autobiografie » unter dem Titel «Inside Story» geschrieben. Er meint damit eine Collage irgendwo zwischen Fiktion und Lebensbilanz. Das Reizvolle an der Geschichte: Über Sex und Tod lässt sich eigentlich nicht schreiben, wie Amis selbst konstatiert – um dann über mehr als 600 Seiten genau das zu tun.
Was den Sex angeht, führt er wie in früheren Romanen eine weibliche Kunstfigur ein, diesmal Phoebe Phelps, die Inhaberin eines Escortservice, den sie erst im Alter aufgibt: «Als ich ausgestiegen bin, war es ein Riesengeschäft …» Dies erlaubt ihm, die Fortpflanzung erschöpfend abzuhandeln, abwechslungsweise mit eigenen Erlebnissen und denen seiner Freunde. Dabei konfrontiert er den Leser mit zum Teil absurden moralischen Fragen: Darf ein Linker mit einer Bürgerlichen ins Bett …?
Wenig Nachsicht mit Verstorbenen
Da sich der Tod im Gegensatz zum Sex der Fantasie weitgehend entzieht, wählte Amis das Ableben von vier Freunden, um sich mit dem diesseitigen Ende auseinanderzusetzen: Der Literaturnobelpreisträger Saul Bellow und die Schriftstellerin Iris Murdoch starben nach einer schweren Demenz. Der trotzkistische Publizist Christopher Hitchens und der Lyriker Philip Larkin erlagen einem Krebsleiden: «In den letzten Wochen bevor sein Leib den Wasserfall hinabging, war Larkin übergewichtig und trank wie ein Loch», schreibt Amis recht unprätentiös. Generell kennt er keine Sentimentalitäten gegenüber seinen verstorbenen Freunden. So erfährt man auch, dass Larkins Vater Sydney «kein Faschist war; er war ein Nazi».
Versteckte Rätsel fordern bei der Lektüre heraus
Zwischen den Schicksalsgeschichten beschäftigt sich Amis immer wieder mit seinen Lieblingsthemen: mit seinem gespaltenen Verhältnis zu Israel, seinem morbiden Schauer, den er bei 9/11 empfunden hatte, und dem kulturellen Gegensatz zwischen Europa und den USA.
Diesen verkörpert für Amis der abgewählte US-Präsident Donald Trump wie kein Zweiter: «Er kann ganz ehrlich nicht zwischen richtig und falsch unterscheiden. » «Inside Story» ist eine anspruchsvolle Lektüre. Amis wechselt laufend Perspektiven und Erzähler, und er mischt Fiktionales unverfroren mit Erlebtem.
Um den Lesefluss zusätzlich zu erschweren, baut er schier unendlich viele Fussnoten ein, in denen er Gesagtes ergänzt, relativiert oder gleich ganz in Frage stellt. Das ist streckenweise bemühend, kann aber amüsant sein, wenn er seine Leser mit versteckten Rätseln konfrontiert: So lässt er seine Phoebe Phelps den viktorianischen Roman «Daniel Deronda» von George Eliot lesen.
Nach und nach erschliesst sich die Wahl der Lektüre, denn Phelps kämpft um ihre jüdische Identität – das grosse Thema sowohl bei «Daniel Deronda» als auch im Leben von Amis, dessen Frau Jüdin ist. Amis hat einer Art Lebensbilanz geschrieben, ähnlich wie sein Freund Ian McEwan kürzlich mit «Lektionen». Im Gegensatz zu diesem sieht er seine Vergangenheit nicht als eine fadengerade Geschichte. Für ihn ist sie vielmehr ein Kaleidoskop verwirrender Einzelteile.
Buch
Martin Amis - Inside Story
Aus dem Englischen von Eike Schönfeld
656 Seiten (Kein & Aber 2022)