Roman: Zweifel am Bosporus
Eine Aufsteigerin wird zur Aussteigerin: Im Roman «Die Diplomatin» erzählt Lucy Fricke von einer Frau, die vom System enttäuscht wird, in dem sie sich Jahrzehnte hochgearbeitet hat.
Inhalt
Kulturtipp 08/2022
Cigdem Akyol
Alles hat sie erreicht – gegen die Widerstände einer elitären Klasse. Am Ziel angekommen, erwartet sie dann die Ernüchterung. «Jeder erste Blick nach draussen war schwarz-rot-gelb», langweilt sich Friederike Andermann über die Flagge im Wind, die sie von ihrem Bürofenster aus sieht. Die deutsche Diplomatin, Ende 40, ist kinderlos und hat gerade wieder eine gescheiterte Beziehung hinter sich. Nach 20 Jahren im Auswärtigen Amt hat sie ihren ersten...
Alles hat sie erreicht – gegen die Widerstände einer elitären Klasse. Am Ziel angekommen, erwartet sie dann die Ernüchterung. «Jeder erste Blick nach draussen war schwarz-rot-gelb», langweilt sich Friederike Andermann über die Flagge im Wind, die sie von ihrem Bürofenster aus sieht. Die deutsche Diplomatin, Ende 40, ist kinderlos und hat gerade wieder eine gescheiterte Beziehung hinter sich. Nach 20 Jahren im Auswärtigen Amt hat sie ihren ersten Botschafterposten in Uruguay bekommen. Doch statt um politische Inhalte muss sie sich jetzt um die sogenannten «Einheitswürstchen» kümmern, die zum Empfang am Tag der Deutschen Einheit gereicht werden. Sie steht auf Empfängen herum und fühlt sich wie eine machtlose Figur, die nur Deutschland repräsentiert. «Ich hatte diesen Beruf gewählt, weil ich etwas bewirken wollte», bilanziert sie frustriert. Jetzt sei sie «ganz unten angekommen, im Eventmanagement». Nachdem sie eine Entführungssituation falsch eingeschätzt hat, wird sie nach Istanbul versetzt.
Der Entscheid zur Rebellion
Die in Berlin lebende Bestsellerautorin Lucy Fricke entfaltet Seite um Seite die Desillusionierung ihrer Protagonistin, die bald alles infrage stellt: Friederike Andermann, Tochter einer alleinerziehenden Arbeiterin, trägt eine teure Uhr am Arm. Sie sitzt einsam in einem Spitzenjob im Ausland und verliert den Glauben an ihr bisheriges Lebensmodell. Denn auch in Istanbul hat sie mit Entführungen zu tun, diesmal mit staatlich organisierten. Und sie wird politisch und emotional verwickelt, als sie auf den Fall einer kurdischen Mutter und ihres Sohnes stösst – beide deutsche Staatsangehörige, die wegen angeblicher terroristischer Verbindungen festgenommen wurden. Die Diplomatin erfährt, dass der deutsche Geheimdienst sensible Daten über politische Oppositionelle ungefiltert an die türkische Regierung weitergibt. «Ich hätte mich am liebsten unter meinem eigenen Konsulat begraben», schämt sie sich. Sie könnte über all das hinwegsehen – doch nachdem sie in türkischen Gefängnissen und Justizsälen die Ungerechtigkeiten des Regimes miterlebt hat, entscheidet sie sich für die Rebellion.
Angelehnt an die Realität
All das schildert Lucy Fricke atmosphärisch und sprachlich schnörkellos. Ihre Protagonistin könnte so blass sein wie eine Karikatur aus einem ARD-Film – aber vor allem ihre Zerrissenheit macht sie so interessant und sympathisch. Es handle sich um eine fiktive Geschichte, sagt die Autorin, aber angelehnt an die Realität. Fricke hat monatelang in der Türkei recherchiert und Gespräche geführt mit Personen aus dem diplomatischen Dienst und mit solchen, die von der türkischen Regierung bedroht werden. Es ist auch diese Akribie, welche «Die Diplomatin» zu einem intelligenten politischen Roman macht, den man nicht weglegen kann. Denn Friederike Andermanns Entwicklung von einer nüchternen Karrieristin zu einer hinterfragenden Aussteigerin berührt. So dass man auf die Verfilmung dieses Stoffes hofft. Am Ende dann weht die deutsche Flagge schlaff im Wind.
Buch
Lucy Fricke
Die Diplomatin
256 Seiten
(Claassen 2022)