Ein Unfall kann mehr verändern als die körperliche Unversehrtheit. Priska hat ihr Gehör verloren, was sie in eine existenzielle Krise stürzt. Mit 53 Jahren entscheidet sie sich für ein Innenohrimplantat, denn sie wolle wieder Musik hören können, sagt sie ihrer Therapeutin. Und zwar nicht irgendwelche Musik, sondern Punk! Mit «Hören üben» versucht Priska, sich im Sommer 2010 zurückzuversetzen in ihre Jugendjahre in der Zürcher Clubszene in den 70er-und 80er-Jahren.
Rückblickend und -hörend berichtet Priska als Ich-Erzählerin im Roman «Flimmern im Ohr» von jener bewegten Zeit mit wilder Musik von Biankaneve bis Kleenex, engagiertem Politaktivismus und experimenteller Selbstfindung. Als historische Klammer dient die Bespitzelung «auffälliger» Menschen durch den Staatsschutz. Denn die 1989 aufgedeckte Fichenaffäre findet im Buch 2010 eine skandalöse Fortsetzung.
Die Begeisterung für Punk-Musik als Auslöser
Die Badener Autorin Barbara Schibli erzählt diese Geschichte als mehrschichtige Autofiktion, obwohl sie betont: «Alle Figuren sind erfunden.» Schibli wurde 1975 geboren und war während Priskas beschriebener Jugend noch ein Kleinkind. Auslöser für «Flimmern im Ohr» sei ihre Begeisterung für Punk-Musik gewesen, die sie zu Recherchen animiert habe. «Ich wollte wissen, was das für ein Umfeld war und was für eine Zeit, in der solche Musik entstehen konnte.» Sie hat gut und detailliert recherchiert, ihre Schilderungen des damaligen Zeitgeists lesen sich stimmig.
Im Gegensatz zu ihrem 2017 erschienenen Erstling «Flechten», in dem sie auf entschleunigte Weise vom Sehen erzählte, vom genauen Hinsehen zwischen Wissenschaft und Kunst, wählt Schibli in ihrem neuen Buch über das Hören ein rasantes und sprunghaftes Erzähltempo. Sie wechselt Zeitebenen und Textsorten so spontan wie ihre Protagonistin die schrillen Outfits. Damit fängt sie zwar den Zeitgeist von Priskas Jugendjahren ein, gerät aber auch ins Stolpern, was zu Wiederholungen führt und inhaltlichen Fehlern.
«Wie bin ich so geworden, wie ich heute bin?»
Die Kernfrage von «Flimmern im Ohr» ist eine Fortsetzung von jener im Debüt «Flechten». Damals fragte sich die Hauptfigur Anna: «Wer bin ich?» Priska geht nun tiefer und fragt: «Wie bin ich so geworden, wie ich heute bin? Und hätte alles auch anders werden können?»
«Flimmern im Ohr» sei all jenen zur Lektüre empfohlen, die sich selbst solche Fragen stellen. Und natürlich jenen, die Teil der Zürcher 80er-Bewegung waren, einen Rückblick und ein Zurückhören wagen und sich – wie Priska – tolerant zeigen den Unschärfen der Erinnerung gegenüber.
Lesungen
Barbara Schibli
Do, 9.1., 19.15 Odeon Brugg AG
Do, 16.1., 20.00 Ono Bern
Buch
Barbara Schibli
Flimmern im Ohr
288 Seiten
(Dörlemann 2024)