Vor 100 Jahren wurde die Moderne postuliert. In Paris und Wien, New York oder Buenos Aires trafen sich Dichter und Denkerinnen, Musiker und Maler, Designerinnen und Architekten in Salons und entwarfen die Zukunft. Eine der umtriebigsten Impulsgeberinnen, Vernetzerinnen und Mäzeninnen dieser Avantgarde war Eugenia Errázuriz (1860–1951). Die millionenschwere Magnatin aus Südamerika spürte den Nerv der Zeit und förderte im Paris der 1920er- und 1930er-Jahre gezielt Talente wie Pablo Picasso, Coco Chanel oder Igor Strawinsky.
Mit extravagantem Plan Richtung Buenos Aires
Die Nase auch im politischen Wind, floh sie 1937 mit ihrem letzten Protegé aus Paris nach Patagonien. Diese Flucht gibt dem neuen Roman von Jana Revedin den Titel. Die deutsche Autorin begleitet Errázuriz und den kränkelnden Designer und Innenarchitekten Jean-Michel Frank von 1937 bis 1941. Errázuriz hatte Frank mit einem extravaganten Plan an Bord des Postschiffes nach Buenos Aires gelockt. In der Einsamkeit Patagoniens wollte sie ein Grandhotel eröffnen, das Frank ausstatten sollte.
Rund um dieses Projekt spielen sich zahlreiche Schicksale, Reisen und Begegnungen ab, welche die 56-jährige Revedin gewohnt leichtfüssig in poetische Sprachbilder packt. So lässt sie Jean-Michel Frank über Eugenia Errázuriz sagen: «Wissen Sie, was Paris ohne diese Frau wäre? Ein verstaubtes Plüschcafé.» Die Autorin erzählt aus Franks Perspektive, die oft jener eines staunenden Kindes ähnelt. Der schüchterne Designer begegnet in Eugenias Begleitung den VIPs jener Zeit, die oft seine Kunden werden: Reederei-Erbin Nancy Cunard in Paris, Magnat J.D. Rockefeller in New York, Victoria Ocampo in Buenos Aires. Sein Ruf, Räume und ganze Häuser mit neuen Möbeln und Tapeten zum Leuchten zu bringen, macht ihn selbst zur Lichtfigur der Avantgarde. «Er hatte das Glück, Leere schaffen zu dürfen und diese Leere mit schönen, raren Dingen zu füllen. Für andere, er selbst brauchte nichts. Nur Eugenia hatte er gebraucht.»
Unzählige Begegnungen mit historischen Figuren
Jana Revedins Roman ist bevölkert von historischen Figuren wie Marcel Proust und Thomas Mann, den Schweizern Alberto Giacometti, C.G. Jung und Le Corbusier, US-Flugpionierin Amelia Earhart, First Lady Eleanor Roosevelt oder Anne Frank. Alle standen tatsächlich in Beziehung zu Eugenia Errázuriz oder Jean-Michel Frank. Die Lektüre wird zur ungemein spannenden Zeitreise in die brodelnde internationale Kulturszene zu Beginn des Zweiten Weltkrieges. Und macht exemplarisch deutlich, dass eine Flucht ans Ende der Welt nicht vor menschengemachten Katastrophen schützen kann. In Patagonien nämlich treffen Errázuriz und Frank auf Nazi-Sympathisanten, die einer namhaften Investorin aus der Hitler-Entourage bei der Erschaffung eines «Lebensraums im Süden» helfen wollen.
Mit «Flucht nach Patagonien» beendet Jana Revedin, die in Venedig lebt und als Architektur-Professorin in Paris lehrt, eine Trilogie biografischer Romane zu Pionierinnen der Moderne. 2018 war «Jeder hier nennt mich Frau Bauhaus» über die initiative Münchnerin Ise Frank erschienen, 2020 «Margherita» über Margherita Revedin, die Kulturpionierin des modernen Venedig.
Buch
Jana Revedin
Flucht nach Patagonien
416 Seiten
(Aufbau 2021)