Die Idee kommt ihr mitten in der Nacht: «Die Kreisläufe des Lebens und des Sterbens darzustellen, die unheilvollen und die heilvollen, das wäre es doch …» Die Künstlerin Helene Klasing steht an einem Wendepunkt. Sie hat während Jahren unter ihrer tyrannischen Mutter gelitten. Eben hat sie erfahren, dass nicht dieser Drache sie zur Welt gebracht hat. Helene ist ein Adoptivkind. Ihre bislang verheimlichte leibliche Mutter ist eine deutsche Adlige, die als erfolgreiche Designerin in New York lebt. Wut, Enttäuschung und Erleichterung sind die widersprüchlichen Gefühle, die die junge Frau überkommen.
Familienverhältnisse werden aufgemischt
Das ist die Schicksalsgeschichte der Helene Klasing, die sich in den 1960ern durch die Fährnisse der deutschen Nachkriegszeit schlagen muss. Der 45-jährige Autor Martin Beyer erzählt ihre fiktive Biografie in seinem Roman «Tante Helene und das Buch der Kreise». Beyer sorgte vor mehr als zehn Jahren mit seinem Debüt «Alle Wasser laufen ins Meer» für Aufmerksamkeit und hat nun seinen dritten Roman herausgegeben. Er arbeitet auch als Dozent für kreatives Schreiben an der Faber-Castell-Akademie im deutschen Stein.
Martin Beyer spiegelt Helenes Lebensgeschichte in der Sinnsuche des jugendlichen US-Amerikaners Alexander. Er ist der Sohn ihrer Halbschwester in den USA und findet sogleich einen Draht zu seiner neu aufgetauchten Tante. Die beiden ungleichen Verwandten verbünden sich, um die verlogenen Familienverhältnisse auf beiden Seiten des Atlantiks aufzumischen: «Du hast immer gesagt, dass deine Geschichte auch meine Geschichte wäre …», schreibt Alexander seiner Tante in einem letzten Brief, als sie schon verstorben ist. Mit Zeitsprüngen führt Beyer durch die Jahrzehnte von den ersten Nachkriegsjahren bis in die Gegenwart. Feinfühlig zeichnet er die Stimmungsschwankungen und die wechselnden Empfindungen seiner Protagonistin nach.
Denn diese sieht sich, abgesehen von ihrer Herkunft, mit weiteren Herausforderungen konfrontiert. So entwickelt sich ihre grosse Liebe Harry in den 1970ern zu einem Sponti der kompromisslosen Sorte, der mit dem Terrorismus sympathisiert und keine Demonstration auslässt. Der einst sanfte Lehrer Harry verfällt dem ideologischen Hass. Helene kann ihm nicht mehr folgen.
Die Widrigkeiten des Lebens meistern
Beyer hat Literaturwissenschaft studiert und schöpft mit Reverenzen aus dem Vollen. So feierten Helene und Harry in ihrer besten Zeit eine «Nicht-Hochzeit» in Anlehnung an «Alice im Wunderland» von Lewis Carroll. Auch dem US-Lyriker Walt Whitman erweist Beyer mit Anspielungen immer wieder die Ehre. Roter Faden dieser Familiengeschichte ist «Das Buch der Kreise», das Helene in Angriff genommen hat und nicht zu Ende bringen wird. «Ich meine Kreise als Sinnbild für sich abrundende, sich vollendende Lebenswege», schreibt sie. Auf den Krieg folgt das Wirtschaftswunder, das sich wiederum als hohl erweist.
Der Roman ist aus Schweizer Sicht streckenweise stark auf deutsche Fragen fixiert. Dennoch lohnt sich die Lektüre, denn Beyer versteht es, mit seiner Protagonistin eine lebensfrohe Zeitgenossin zu zeichnen, die es mit Herz und Verstand versteht, die Widrigkeiten des Lebens zu meistern.
Buch
Martin Beyer
Tante Helene und das Buch der Kreise
415 Seiten
(Ullstein 2022)