Eine unbestimmte Sehnsucht schwebt zwischen Judith Hermanns Zeilen. Ihre Figuren sind Einsame und Wurzellose, im neuen Roman genauso wie in ihren früheren Werken. Im Kontrast zu dieser Unbehaustheit ihrer Figuren heisst das neue Buch «Daheim». Mit der Autorin selbst sind auch ihre Figuren älter geworden – und werden von Erinnerungen heimgesucht.
Wie Korken tauchen die Erinnerungen auf
Im Mittelpunkt steht diesmal eine 47-jährige Ich-Erzählerin, die nach ihrer Scheidung in ein altes Haus am Meer, irgendwo im Norden, gezogen ist. Hier lebt ihr älterer Bruder Sascha, dem sie in seiner Kneipe aushilft. Zwei Einzelgänger, die allein sein wollen. Und dennoch knüpfen sie Kontakte zur Aussenwelt. Sascha verliebt sich ausgerechnet in die um Jahrzehnte jüngere Nike – eine Verlorene wie er selbst, die früher von der Mutter in eine Kiste gesperrt wurde. Und die Ich-Erzählerin schliesst Freundschaft mit ihrer Nachbarin Mimi, einer bodenständigen Künstlerin. Deren wortkarger Bruder Arild, Besitzer von fast 1000 Schweinen, wird zu ihrem Geliebten.
Ob sie bleiben oder weiterziehen wird, ob sie Wurzeln schlägt in ihrem neuen Leben am Meer, bleibt offen. «Wie Korken», die aus der Tiefe an die Wasseroberfläche gedrückt werden, tauchen Erinnerungen auf. Etwa an den Sommer vor 30 Jahren, als sie von einem Zauberkünstler für eine Kreuzfahrtschiff-Tournee Richtung Singapur angefragt wurde. Als seine Assistentin sollte sie sich für den uralten Trick der «zersägten Jungfrau» in eine Kiste legen, um sodann unversehrt wieder daraus hervorzutauchen. Sie sagte zu – und entschied sich in letzter Sekunde um.
Das Kistenmotiv zieht sich durch Judith Hermanns Roman: Eingeschlossen zu sein, festzustecken, nicht aus der eigenen Haut zu können, das gleichzeitige Bedürfnis nach Nähe und Distanz sind die Themen, die sie umkreist. Tief verbunden bleibt die Ich-Erzählerin ihrem ExMann Otis und ihrer Tochter Ann, die auf Weltreise ist und ihrer Mutter ab und zu die Koordinaten ihres Aufenthaltsorts durchgibt. «Ich habe eine verrückte Sehnsucht nach allem, was ich einmal hatte, ich kann mich nicht bewegen vor Sehnsucht», hält die Ich-Erzählerin nach einem Telefongespräch mit ihrer Tochter fest. Und dennoch scheint sie auch ein wenig in der Gegenwart anzukommen, eine Art Frieden zu schliessen in der Stille und Einsamkeit, aber auch im Verbund mit den knorrigen Einheimischen.
Die Möglichkeit eines Neuanfangs vor Augen
Die 50-jährige Berliner Autorin, die selbst meist in einem Haus am Meer in Friesland lebt, variiert ihre altbekannten Themen und Figuren. Der sehnsuchtsvoll-melancholische Ton, die schlichten, klaren Sätze, die Verdichtung sind geblieben. In diese Sehnsuchtslandschaft bricht aber in knapp gesetzten Worten zuweilen das Grauen ein, wenn etwa Kindheitstraumata oder Klimakatastrophen angetönt werden oder von der brutalen Sage der gepeinigten Meerjungfrau die Rede ist. Auch bleibt «Daheim» etwas weniger in der Schwebe als Hermanns frühere Werke mit ihren suchenden Figuren. Hier erzählt eine Frau, die nicht mehr alles vor sich hat, die bereits von der Vergangenheit geprägt wurde, aber auch die Möglichkeit eines Neuanfangs vor Augen hat.
Livestream-Lesung
Mi, 19.5., 19.30
mit Judith Hermann
www.literaturhaus-hamburg.de
Buch
Judith Hermann
Daheim
192 Seiten
(S. Fischer 2021)