Oberhalb des Ägerisees ist die Handlung angesiedelt, zwischen Sattel, Rothenthurm und Einsiedeln. Wir schreiben das Jahr 1313, als eines Tages in einem kleinen Dorf ein Fremder auftaucht: «Wie der Halbbart zu uns gekommen ist, weiss keiner zu sagen, von einem Tag auf den anderen war er einfach da», heisst es am Anfang des Buchs. «Es ist ein komischer Vogel, der Halbbart. Es sagen ihm alle so; seinen richtigen Namen kennt keiner.»
Ein «Finöggel» erzählt die Geschichte
Klar wird bald, Halbbart heisst so, «weil ihm der Bart nur auf der einen Seite des Gesichts wächst, auf der anderen Seite hat er Brandnarben und schwarze Krusten, und das Auge ist dort ganz zugewachsen». Im Laufe der Geschichte wird man einiges erfahren über diesen Mann, der Trauriges erlebt hat, der aber weise und welterfahren ist, sich in der Kräuterheilkunde auskennt und schliesslich eine Waffe erfindet, die seinen Namen trägt.
Derjenige, der die Geschichte erzählt, ist Sebi, ein «Finöggel», der nicht für die Arbeit auf dem Feld geschaffen ist und sich schon in jungen Jahren mit dem Gedanken trägt, ein Mönch zu werden. Sebi, der eigentlich auf den Namen Eusebius getauft ist, lebt mit seiner Mutter und zwei Brüdern im Dorf. Der Vater ist gestorben. Nach und nach freundet sich Sebi mit Halbbart an, erfährt mehr über das Leben und Wesen dieses starken Mannes. Als Chronist verfolgt Sebi nicht nur Halbbarts Leben, sondern auch dasjenige des ganzen Dorfes mitsamt Umgebung.
Verraten sei nicht allzu viel, denn der Zürcher Autor Charles Lewinsky bevölkert seinen Roman mit unzähligen liebevoll gezeichneten helvetischen Figuren – ähnlich, wie es einst Uderzo/Goscinny in den Asterix-Bänden mit ihren Galliern taten. Nicht selten sind es kantige, hemdsärmelige Menschen, wie Onkel Alisi, der aus dem Söldnerdienst zurückkehrt und aus Sebi einen richtigen Soldaten machen will. Es gibt aber auch die harten Männer mit butterweichem Kern wie der Schmied Stoffel, der Sebi nach dem Tod seiner Mutter bei sich aufnimmt. Und auch Frauenfiguren nehmen starke Plätze ein: das Teufels-Anneli etwa, das im Winter «ein willkommener Gast ist, wenn man sich die dunklen Nächte gern mit Geschichten heller macht».
Geschichte, aber noch viel mehr Geschichten
Die Handlung spielt sich ab vor dem geschichtlichen Hintergrund des Marchenstreits zwischen Schwyz und dem Kloster Einsiedeln, der Judenverfolgungen im 14. Jahrhundert und der Schlacht am Morgarten. Aber Lewinsky ging es weniger um Geschichte als vielmehr um Geschichten. Und die gibt es zuhauf im Buch. Durch den gezielten Gebrauch von Helvetismen und schweizerdeutschen Redewendungen werden die Leser zudem eins mit den Figuren und ihrer Denkweise und wähnen sich bald mitten im Geschehen. Lewinsky ist ein gewitzter Wortspieler und ein fantasievoller Erzähler, das hat der 74-jährige Autor in den letzten 40 Jahren immer wieder bewiesen: zuletzt im Roman «Der Stotterer» (2019), wo er mit Witz und beissendem Zynismus die Geschichte eines jungen Straffälligen erzählt. Auch im neuen Roman geht er mit ungebrochener Schreibfreude, mit Humor und Verve ans Werk.
Nach 688 Seiten ein bisschen Wehmut
Dass es Lewinsky ein Vergnügen war, neue «alte Sagen» zu erfinden, ist von der ersten bis zur letzten von 688 Seiten spürbar. Zum Schluss der Lektüre bleibt Wehmut, weil man Abschied nehmen muss vom kleinen Ort mitten in der Schweiz, von den wilden, unbändigen und doch liebenswerten Kerlen, die ihn bevölkern: von Halbbart, Sebi, Alisi. Gerne hätte man den sagenhaften Geschichten voller Fantasie weitergelauscht, die das Teufels-Anneli und sein Schöpfer Charles Lewinsky zu erzählen haben.
Buch
Charles Lewinsky
Der Halbbart
688 Seiten
(Diogenes 2020)
Sechs Fragen an Charles Lewinsky
«Die Fantasie hat sich selbständig gemacht»
kulturtipp: Charles Lewinsky, sind oder waren Sie ein Fan von Asterix-Comics? Wenn ja, was hat Sie an diesen Geschichten am meisten fasziniert?
Charles Lewinsky: Fan bin ich nur von den Originalen, an denen noch die beiden Schöpfer gearbeitet haben. Am meisten fasziniert haben mich immer die Wortspiele, wie zum Beispiel in «Asterix und Kleopatra»: «Je suis, mon cher monsieur, très heureux de vous voir. – C’est un Alexandrin.»
Ihr neues Buch «Der Halbbart» liest sich wie ein lustvoll entstandener Asterix-Band. Wir befinden uns allerdings nicht in Gallien, sondern in der Urschweiz, 1313 n. Chr. Wie nahm Ihre Geschichte ihren Anfang?
Der allererste Ansatz war die Figur des Halbbarts. Und dann fing die Fantasie an, sich selbständig zu machen. Ich mag es, wenn ich bei einer Geschichte nicht von Anfang an weiss, welchen Verlauf sie nehmen wird.
Wer ist Ihnen besonders ans Herz gewachsen? Welche Figur hat sich im Lauf der Geschichte unerwartet anders entwickelt?
Mich haben alle Entwicklungen der Figuren überrascht, weil ich mir vor Beginn der Arbeit keinen «Fahrplan» gemacht habe. Ganz besonders mag ich die Figur des Teufels-Anneli.
Und wer ist unverhofft im Geschehen aufgetaucht?
Der Onkel Alisi.
Ihre vielen Charakterköpfe zeichnen sich durch eine ausgeprägt helvetische Sprache aus. Nicht nur der Einsatz vieler Helvetismen macht sie zu Urschweizern, ihre Art des Denkens und Sprechens schafft Vertrautheit. Wo haben Sie diese ausgeprägten Urschweizer Denkmuster kennengelernt?
Ich glaube, die sind gar nicht urschweizerisch, sondern ganz einfach schweizerisch. Und
diese Denkmuster sollte man als guter Schweizer eigentlich kennen – was nicht heisst, dass man sie in jedem Fall teilen muss.
Wie lustvoll empfanden Sie selbst das Schreiben dieses Buchs?
Schreiben ist nicht immer lustvoll, sondern auch harte Arbeit. Aber wenn man als Bergsteiger den Gipfel erreicht hat, sieht man nur noch die schöne Aussicht und vergisst den Muskelkater.