Ein Buch muss nicht gut sein, nur weil sein Cover ins Auge springt und dank einer gestanzten Perlenkette den ersten haptischen Kontakt zur prickelnden Sinnenfreude macht. Wer sich von «Ex Wife» dennoch bezirzen lässt und in die ersten Sätze «reinliest», ist verloren. Denn das Abenteuer hält an.
Satz um Satz saugt der Leser aus den Seiten und will nicht glauben, dass all dies vor fast 100 Jahren geschrieben wurde – von einer Frau, die kein Blatt vor den Mund nahm, mehr noch: deren funkelnde Sprache manch heutige Schreiber wie biedere Protokollanten klingen lässt.
«Ich zog mich mit äusserster Sorgfalt an – mit dem Gedanken, ich könnte vor Sonnenuntergang eine Leiche sein, und das machte mir nicht viel aus; aber ich wollte lieber eine gepflegte Leiche sein», schreibt Ursula Parrott über ihre Protagonistin Patricia.
Freizügige Szenen sorgen für einen Skandal
Patricia ist 24 und soeben von ihrem heiss geliebten Ehemann Peter verlassen worden. Ihre Reaktion: «Ich werde jetzt weinen, aber nur eine Minute.» Nach dem ersten Schock erkennt sie ihre plötzliche Freiheit und beschliesst, sie zu nutzen.
Im New York der 1920er-Jahre ist dies auf eigentümliche Weise möglich. Patricia versteht es, die sich dominant glaubenden Männer zu umgarnen und einzuspannen. Und davon erzählt sie auf unvergleichliche Weise. «Die Männer sagten, ich sähe wunderschön aus, sei aber völlig kalt. Warum kalt? Ich liess sie mich küssen, wenn sie es mussten.»
Autorin Parrott wusste, wovon sie schrieb. 1899 als Arzttochter in Massachusetts geboren, absolvierte sie ein Sprachstudium in Boston und zog 1920 nach New York. Dort heiratete sie den Reporter Lindesay Marc Parrott, der sie nach sechs Jahren verliess. Ursula begann, selbst zu schreiben, und landete 1929 mit «Ex-Wife» prompt einen Grosserfolg. Das Buch wurde zum Skandal wegen seiner «freizügigen» Szenen.
Der Skandal aber machte Parrott reich. Romanfigur Patricia trägt wesentliche Züge ihrer Erfinderin Ursula. Wie diese schafft sie es als «Ex-Wife», sich schreibend ein eigenes Leben aufzubauen.
Mit ausgesuchten Freundinnen lebt sie in Wohngemeinschaften, hat einen ansehnlichen Männerverschleiss und schert sich einen Teufel um die Prohibition. In sogenannten «Flüsterkneippen» frönt sie dem Alkoholgenuss und geniesst ihre blühende Jugend in vollen Zügen.
Wege gefunden, um Träume auszuleben
Der Roman «Ex-Wife» ist ein grandioses, weil vielgestaltiges und unterhaltsames Sittenbild der «Roaring Twenties», das sich problemlos ins Hier und Heute transponieren lässt. Patricias Probleme und Sehnsüchte sind dieselben wie jene heutiger Frauen.
Nur fand sie einen direkteren Weg, ihre Träume auszuleben: «Wir sind frei. Kokolores!», sagt sie einmal ihrer Freundin Lucia. «Frei, unsere Miete zu bezahlen, uns selbst Kleider zu kaufen und uns mit den Verschrobenheiten von drei bis acht Männern abzufinden (...), statt es nur einem Ehemann recht machen zu müssen.»
Ursula Parrott starb 1957 verarmt und geriet bald in Vergessenheit. Nun kann man ihre Wiederentdeckung feiern. Ihre Sätze duften auch nach 100 Jahren wie frisch getippt und lesen sich mit entsprechendem Entzücken.
Ursula Parrott
Ex-Wife
Aus dem Englischen von Tilda Engel
320 Seiten
(Fischer 2024)