Es riecht nach Kohl und Batterien. Der ständige, alles durchdringende Regen bringt bleiche, bronchialbelastete Bürger hervor. In seinem autobiografischen Roman «Shuggie Bain», der im vergangenen Jahr mit dem Booker Prize ausgezeichnet wurde, beschreibt der schottische Autor Douglas Stuart ein düsteres Bild seiner Heimatstadt Glasgow.
Unter beengten Verhältnissen, «festgeklebt wie Fliegen am Fliegenfänger», zieht Agnes Bain drei Kinder gross. Von der Wohnung im 16. Stock eines Sozialbaus zieht die dysfunktionale Familie in ein schäbiges Haus in einer Zechensiedlung am Rand der Stadt. Der trostlosen Umgebung begegnet die attraktive Frau, die manchen Verehrer an Elizabeth Taylor erinnert, mit einer trotzigen Haltung – stets geschminkt und glamourös gekleidet. Trost sucht sie im Alkohol, am Leben ihrer Kinder nimmt sie kaum teil.
Auch die Heranwachsenden versuchen der Tristesse zu entfliehen. Catherine, die Älteste, zieht weg, und Tagträumer «Leek» findet Zuflucht in seiner Kunst, während ihr jüngerer Halbbruder Hugh, genannt Shuggie, mit verzweifelter Hingabe versucht, seine Mutter aus deren Sucht und Einsamkeit zu befreien. Der sensible Junge nimmt jede Nuance von Agnes’ Gemütslage wahr. Seinen Vater, einen treulosen Taxifahrer, sieht er indessen kaum. Der feminine Shuggie spürt, dass er anders ist. Zaghaft wird er sich seiner Homosexualität bewusst, inmitten eines nachlässigen Umfelds und einer zerrütteten Gesellschaft.
Arbeitslosigkeit, Armut und Alkoholsucht
Der Coming-of-Age-Roman, abwechselnd erzählt aus Sicht von Shuggie und Agnes, ist gleichzeitig eine historisch rückblickende Sozialkritik. Margaret Thatchers radikale Wirtschaftsreformen führten im Glasgow der 80er zu privaten Tragödien. Arbeitslosigkeit, Armut und Alkoholsucht prägten den Alltag vieler Familien. Die Ausweglosigkeit der abgehängten Arbeiter macht Douglas Stuart, der seit 2000 in den USA lebt, in seinem Roman quälend spürbar.
Vor diesem Hintergrund reflektiert der 45-jährige Autor, dessen Mutter an den Folgen ihrer Alkoholkrankheit starb, die toxische Maskulinität des damaligen Umfelds, ähnlich wie der französische Autor Édouard Louis, der in «Das Ende von Eddy» seine Identitätssuche als schwuler Mann unter prekären Verhältnissen im patriarchalen Arbeitermilieu beschreibt.
Der gesellschaftskritische Unterton erinnert mitunter an Charles Dickens, nur dass Stuart nie anklagt oder moralisiert. Genau wie der grosse Romancier setzt auch er auf zugespitzte Charakterisierungen. Unvergesslich sind seine grimmigen Nebenfiguren. Fiese Halunken, die er treffend skizziert und deren Bösartigkeit er bis an die Grenze zur Karikatur steigert. Für Authentizität sorgt der derbe lokale Dialekt, den Sophie Zeitz in ein glaubwürdiges, einfaches Deutsch übersetzt hat.
Trotz Perspektivlosigkeit gibt es Hoffnung
Es ist eine finstere Erzählung, berührend und bestürzend zugleich. Trotz der Perspektivlosigkeit blitzen aber immer wieder hoffnungsvolle Momente auf. Stuart verwandelt den Schmerz seines Titelhelden in eine innere Stärke, getragen von einer unbeirrbaren, beharrlichen Liebe.
Buch
Douglas Stuart
Shuggie Bain
Aus dem Englischen von Sophie Zeitz
496 Seiten
(Hanser Berlin 2021)