Mit Jahrgang 1984 gehört der Weissrusse Sasha Filipenko zu jener Generation russischer Autoren, welche die Schrecken der Stalinzeit nicht selbst miterlebt hat. Dieser Umstand liess den Journalisten und Schriftsteller aus Minsk lange zögern, über diese Zeit des Terrors einen Roman zu verfassen, obwohl er im Besitz vieler schwer zugänglicher Originaldokumente war.
Zwei Briefe gaben schliesslich den Ausschlag, es doch zu tun. Sie stammten vom Roten Kreuz aus Genf und waren wie Hunderte anderer Schreiben Anfang des Zweiten Weltkriegs an das sowjetische Aussenministerium gerichtet. Das IKRK erbat damals Auskünfte über Listen von Verletzten und Kriegsgefangenen und bot zugleich Hilfe an. Die Anfragen aber blieben nahezu alle unbeantwortet. Die Sowjetunion foutierte sich um die Völkerrechte, sie hatte kein Interesse daran, ihre gefangenen Soldaten wieder zurück in die Heimat zu holen. Diese galten dort sowieso als Verräter.
In seinem Roman «Rote Kreuze» erzählt Sasha Filipenko davon durch die Geschichte von Tatjana Alexejewna: Sie ist über 90 und leidet an Alzheimer. Bevor sie ihr Gedächtnis ganz verliert, schildert sie ihrem neuen Nachbarn Alexander ihr trauriges Leben. Sie bezeichnet es als «eine Biografie der Angst», die aufzeigt, «wie das Grauen einen Menschen unvermittelt packt und sein ganzes Leben verändert».
Das historische Gedächtnis geht verloren
Als junge Frau arbeitet Tatjana als Fremdsprachensekretärin im Volkskommissariat für Auswärtiges. Dort kommt sie 1941 arg in Bedrängnis, als ihr Mann Ljoscha in Kriegsgefangenschaft gerät. Der Versuch, sich und Ljoscha zu retten, misslingt. Tatjana wird als Verräterin abgestempelt und erfährt den Terror des Regimes am eigenen Leib.
Erinnern und Vergessen sind Sasha Filipenkos grosse Themen in seinem fünften Roman «Rote Kreuze», der nun als erstes seiner Werke auf Deutsch erscheint. «Sowohl in Russland als auch in meinem Heimatland Weissrussland neigt heute nicht nur die Gesellschaft dazu, die Grausamkeiten des 20. Jahrhunderts zu vergessen, sondern – und das ist weitaus gefährlicher – der Staat trifft bewusst Massnahmen, um diese Erinnerung auszulöschen», betont der Autor in einem Interview. Diesem Umstand will Filipenko mit Tatjanas Geschichte entgegenwirken.
Schade, dass der Roman während der ersten 70 Seiten kaum an Fahrt aufnimmt und die Leserin geneigt ist, das Buch wegzulegen. Wer durchhält, erfährt vom eindrücklichen Leben einer starken Frau, die sich trotz staatlicher Willkür, Ungerechtigkeit und Denunziantentum zu behaupten weiss. Die Alzheimerkrankheit der glasklar denkenden Protagonistin Tatjana wirkt zwar bis zum Schluss irritierend – sie passt aber als Metapher für Russlands schwindendes Erinnerungsvermögen. «Ein wichtiges, notwendiges Buch», findet Filipenkos Schriftstellerkollege Dmitri Gluchowski: «Sowohl für Russland, das unter historischer Amnesie leidet, als auch für Europa, das ebenfalls Gefahr läuft, das historische Gedächtnis zu verlieren.»
Buch
Sasha Filipenko
Rote Kreuze
287 Seiten
(Diogenes 2020)