Die Welt, wie er sie kennt, ist dem Untergang geweiht: Davon ist der 58-jährige Schaufensterdekorateur Stettler in Sulzers neuem Roman überzeugt. Er lebt im Umbruchjahr 1968, auch in Bern geht die Jugend auf die Barrikaden. In einer Nacht-und-Nebel-Aktion hissen die Revoluzzer auf dem Münsterturm die Vietcong-Flagge, protestieren gegen den Vietnamkrieg. Sie tragen Jeans, Beatles-Frisuren, hören lärmige Musik, reden über «Geschlechtstrieb, Drogen, Krebs, Selbstmord, Perversionen», wie Stettler entsetzt feststellt.
Auf einmal wird Stettler zum alten Eisen gezählt
Schmerzhafte Veränderungen stehen ihm auch in seinem Beruf bevor: Jahrzehntelang war Stettler der angesehene Schaufensterdekorateur des Warenhauses «Quatre Saisons», war stolz auf seinen «untrüglichen Sinn für Schönheit». Und nun setzt ihm die Geschäftsleitung einen jungen Schnösel vor die Nase, der «moderne Tendenzen» einbringt, die der Traditionalist so verachtet. Der grösste Affront ist jedoch, dass der junge Konkurrent mit der wichtigsten Aufgabe des Jahres, der Weihnachtsdekoration, betraut wird. «Stettlers Welt war erschüttert», heisst es lapidar. «Stettler wusste nun, dass man ihn zum alten Eisen zählte. Man betrachtete ihn als Mann, der die Zukunft verschlief.» Er ist zutiefst verletzt, fühlt sich öffentlich verhöhnt.
Sulzer verwebt stimmig zwei Erzählstränge
Der 66-jährige Basler Autor Alain Claude Sulzer beschreibt diese Verweigerung der modernen Welt mit leisem Humor, aber auch mit viel Empathie für die seelischen Erschütterungen seines Protagonisten, der sich plötzlich überflüssig fühlt. Parallel dazu webt Sulzer die Geschichte von der älteren Klavierspielerin Lotte Zerbst ein, die in Berlin ihren ehemaligen Mentor trifft. Mit dem einst berühmten Pianisten Mereschkowski verbindet sie eine unheilvolle Vergangenheit. Lotte Zerbst ist so einsam wie Stettler, erhält im Gegensatz zu ihm für ihre Arbeit aber nach wie vor viel Anerkennung. Stettler, der ihr Klavierspiel oft im Radio hört, schreibt ihr bewundernde Briefe. Die Pianistin geniesst die Worte ihres unbekannten Verehrers und beschliesst, ihm zurückzuschreiben, ihn vielleicht sogar zu treffen. Von Stettlers Zerrüttung ahnt sie freilich nichts…
Der Roman spielt zwar in den 60er-Jahren, könnte aber auch heute angesiedelt sein. Alain Claude Sulzer schreibt von Menschen, die in Zeiten des politischen und gesellschaftlichen Umbruchs unter die Räder kommen: Solche, die sich in der modernen Arbeitswelt abgehängt fühlen, sich zurücksehnen in alte Zeiten und sich aus Wut gegen den Wandel radikalisieren. So wie Stettler, der sich sein ganzes Leben lang unauffällig im Hintergrund gehalten hat und sich nun durch die erfahrene Schmach zu einem anderen Menschen wandelt. Das mündet in einer «merkwürdigen Sache», die zum Stadtgespräch wird, wie im Prolog des Romans angedeutet wird.
Sulzer komponiert die beiden lose verknüpften Erzählstränge stimmig und zeigt sein musikalisches Gespür. Die Musik spielt wie in seinem Roman «Aus den Fugen» auch ganz konkret eine Rolle: Stark sind die poetischen Passagen, in denen er die Herangehensweise der Pianistin an ein Werk beschreibt. Für Lotte Zerbst ist das Klavierspiel ein Refugium in einer sich ändernden Welt. Für Stettler gibt es diesen tröstlichen Rückzugsort nicht mehr.
Buchvernissage
Mi, 28.8., 19.00 Literaturhaus Basel
Radio
«52 beste Bücher» zum Roman «Unhaltbare Zustände»
So, 25.8., 11.03 Radio SRF 2 Kultur
Buch
Alain Claude Sulzer
Unhaltbare Zustände
272 Seiten
(Galiani 2019)