Die junge Frau könnte mit Semtex-Sprengstoff durch die Gegend spazieren, und es wäre kein Problem. Aber im Gehen ein Buch lesen? Das geht nun wirklich nicht! «Semtex passt ins Bild», erklärt eine Freundin der Ich-Erzählerin in «Milchmann», «eher als dein gefährliches Lesen im Gehen.» Die Welt, in der eine Lese-Vorliebe absonderlicher und auffälliger erscheint als Sprengstoff in der Tasche, ist das Belfast der 1970er-Jahre. Die Zeit des Nordirland-Konflikts.
Mit Büchern der Realität entfliehen
Was der Bürgerkrieg mit den betroffenen Menschen gemacht hat, erzählt Anna Burns in ihrem dritten Roman. Sorgfältig zeichnet sie die Atmosphäre einer Gesellschaft nach, die durch den Konflikt polarisiert und paranoid geworden ist; in der die Gemeinschaft nicht mehr Geborgenheit bedeutet, sondern Unterdrückung. Dafür wurde die 58-jährige Schriftstellerin 2018 zu Recht als erste Nordirin mit dem renommierten Man Booker Prize ausgezeichnet.
In «Milchmann» arbeitet Burns ohne konkrete geografi-sche Bezeichnungen. Der Handlungsort ist jedoch deutlich als das katholische Arbeiterviertel Ardoyne in Belfast zu erkennen, in dem Burns selber aufwuchs. Hier treffen die Leser auf die namenlose 18-jährige Protagonistin. «Lesemädchen» nennt man sie im Quartier auch, weil sie stets lesend unterwegs ist. «Immer nur mit Büchern aus dem 19. Jahrhundert», wie sie selber ihre Realitätsflucht kommentiert. Denn: «Bücher aus dem 20. Jahrhundert mochte ich nicht, weil ich das 20. Jahrhundert nicht mochte.» Die auffällige Frau wird endgültig zur Geächteten, als ihr ein 41-jähriger Widerstandskämpfer nachzustellen beginnt. Anstatt sie als Stalking-Opfer des titelgebenden Milchmanns zu sehen, dichtet ihr das Umfeld lieber eine Affäre mit dem Verheirateten an.
Klaustrophobisches Gesellschaftsbild
Burns verzichtet in ihrem Roman auf jene Bilder des Nordirland-Konflikts, die sich in Europas kollektives Gedächtnis eingebrannt haben. Die Armee-Patrouillen, Autobomben und Heckenschützen – sie werden nur am Rande erwähnt. Stattdessen zoomt die Autorin auf die Gemeinschaft im Belagerungszustand: Unter der Knute von Katholizismus, despotischen Rebellen und spionierenden Sicherheitskräften haben die Menschen deren patriarchale Moralvorstellungen, Loyalitäts-Forderungen und sonstige Verhaltensregeln verinnerlicht.
Und weil diese «Richtwerte der gesellschaftlichen Ordnungsmässigkeit» Sicherheit versprechen, setzen die verängstigten Bewohner des Viertels diese Normen selber äusserst verbissen durch. So gibt es richtige oder falsche Vornamen, Fernsehprogramme und Milchprodukte; klare Regeln für männliches und weibliches Verhalten; eine deutliche Abgrenzung zwischen «unserer und deren Gemeinschaft». Nicht auffallen und still sein, heissen hier die Grundregeln. Wehe, man weicht irgendwie von der Norm ab. «‹Zu traurig› war schlecht, und ‹zu fröhlich› war schlecht», erklärt die Protagonistin, «weshalb man am besten gar nichts war.» Ein wahrlich klaustrophobisches Gesellschaftsbild.
Anspruchsvolle, aber packende Lektüre
Diese alles erdrückenden Lebensumstände spiegeln sich auch im Erzählduktus des «Lesemädchens». Weil jede Aussage und jeder Name als «politisches Statement» gedeutet werden kann, ist sie bemüht, stets unverfänglich zu bleiben. Für die Menschen in ihrem Umfeld gibt es nur Rollenbezeichnungen wie «Älteste Schwester» und «Vielleicht-Freund». Die Konfliktparteien heissen einfach «andere Seite der Hauptstrasse» oder «andere Seite der See». Und dazwischen verzettelt sie sich in gestelzten Formulierungen und ausschwei-fenden Erklärungen. Gerade das macht «Milchmann» zu einer anspruchsvollen, aber eben auch packenden Lektüre: Hier bricht eine mit dem Schweigen, erzählt von Übergriff und Unterdrückung – lässt die Leser gleichzeitig aber an den tief verinnerlichten Mechanismen der Selbstzensur teilhaben. Schade ist deshalb, dass es der Übersetzerin Anna-Nina Kroll nur bedingt gelungen ist, den Klang und die Nuancen dieser Sprache überzeugend im Deutschen wiederzugeben.
Die Sonderlinge sind nicht die Dummen
«Milchmann» mag im Nordirland der 1970er-Jahre spielen, Anna Burns ist dennoch ein Roman mit universeller Aussagekraft gelungen. Die Nordirin prangert einengende Geschlech-ternormen an und verurteilt die Gemeinschaft, die übergriffiges Verhalten deckt oder verharmlost. Das einen der Roman in seiner Schwere nicht erschlägt, liegt vor allem am auflockernden Humor, mit dem Moralapostel, unfähige Soldaten und inkonsequente Rebellen demontiert werden. Die Sonderlinge, so viel sei gesagt, sind bei Burns nicht die Dummen.
Buch
Anna Burns
Milchmann
Aus dem Englischen von Anna-Nina Kroll
448 Seiten
(Tropen 2020)