«Das Produkt eines Menschenhandels», so bezeichnet Meryem sich selbst schonungslos. Denn ihre Mutter Aynur wurde als 19-Jährige gegen ihren Willen mit Alvin verheiratet – eine Zwangsheirat, angezettelt von ihrem einst geliebten Bruder.
Dass daraus kein Glück hervorgeht, wird schon beim ersten Treffen klar: Der hagere Hilfsarbeiter Alvin stammt aus einer ungebildeten, streng religiösen Familie aus Anatolien, während die elegant gekleidete Aynur bisher in Freiheit und Wohlstand in Istanbul aufwachsen konnte. «Betörend wie eine Tulpe aus dem Gülhane-Park», erscheint sie Alvin. Sie hingegen denkt über ihren zukünftigen Angetrauten: «Er riecht wie ein Esel.»
Alvin verspricht Aynur ein Leben in Wohlstand in Deutschland. Die Realität in Herne im Ruhrgebiet sieht anders aus: «Die Stadt war nicht nur auf den ersten Blick hässlich, beim genaueren Hinsehen wirkte sie noch hässlicher.» In dieser trostlosen Umgebung, in der Alvin und Aynur als Gastarbeiter schuften, wachsen auch Tochter Meryem und Sohn Ada auf. Die unheilvolle Verbindung ihrer Eltern bekommen sie durch Schläge und Lieblosigkeit zu spüren.
«Geliebte Mutter», nennt Cigdem Akyol ihren aus Meryems Perspektive geschriebenen Roman dennoch. Denn in der von Gewalt geprägten Familie gibt es auch rare zärtliche Momente. Und vor allem ermöglicht die Mutter ihren Kindern den sozialen Aufstieg.
Meryem und Ada sollen es einmal besser haben als sie – sie ackert sich in der Fabrik ab, damit die beiden eine gute Ausbildung bekommen. «Ihr müsst fleissiger sein als alle anderen», bläut sie ihnen ein. Wie sich Meryem aus ihren Verhältnissen befreien konnte, wird im zweiten Teil deutlich: Sie arbeitet als Journalistin in Berlin und in Istanbul.
Akyol, die selbst in einer Gastarbeiterfamilie in Herne aufgewachsen ist und heute als Journalistin in Zürich arbeitet, hat sich nach Sachbüchern zur Türkei und zu Präsident Erdogan erstmals an einen Roman gewagt. Immer wieder fliesst auch die politische und gesellschaftliche Situation ein. Im Kern geht es aber um die Familie, die Akyol in drastischen, zum Ende hin auch versöhnlichen Szenen schildert. Die Eltern, das wird in ganzer Ambivalenz deutlich, sind selbst Opfer der Umstände.
Cigdem Akyol
Geliebte Mutter – Canim Annem
240 Seiten
(Steidl 2024)