Roman: Vorgeführt wie Tiere
Victoria Mas führt in ihrem Debütroman «Die Tanzenden» in eine Zeit, in der unangepasste Frauen in die Psychiatrie abgeschoben wurden.
Inhalt
Kulturtipp 15/2020
Babina Cathomen
Der «Bal des folles» – «Ball der Verrückten» – ist im Paris des 19. Jahrhunderts das Ereignis des Jahres. Von Sensationslust getrieben strömt die Pariser Oberschicht in die berühmte psychiatrische Anstalt Salpêtrière. Die herausgeputzten Gäste wollen sich amüsieren, einen Blick auf die sogenannt geisteskranken Frauen erhaschen. «Man möchte doch zu gern wissen, wie diese berühmten hyst...
Der «Bal des folles» – «Ball der Verrückten» – ist im Paris des 19. Jahrhunderts das Ereignis des Jahres. Von Sensationslust getrieben strömt die Pariser Oberschicht in die berühmte psychiatrische Anstalt Salpêtrière. Die herausgeputzten Gäste wollen sich amüsieren, einen Blick auf die sogenannt geisteskranken Frauen erhaschen. «Man möchte doch zu gern wissen, wie diese berühmten hysterischen Anfälle aussehen», sagt ein Gast. Ein anderer meint vorfreudig: «Letztes Jahr hat sich eine alte Irre auf sämtliche Männer im Saal gestürzt!»
Diese erregt-alberne Stimmung im Jahr 1885 schildert Victoria Mas im Roman «Die Tanzenden». Und wirft so geschickt die Frage auf, wer hier eigentlich zu den Verrückten zählt. Sind es die Patientinnen, die in die Salpêtrière abgeschoben wurden, weil sie zu unangepasst waren? Oder sind es die Gäste, welche die eingesperrten Frauen wie «exotische Tiere» betrachten und sich kichernd und kreischend auf ihre Kosten amüsieren?
Die Autorin erzählt ihre Geschichte aus der Sicht dreier Frauen: Die 16-jährige Louise wurde eingewiesen, nachdem sie von ihrem Onkel vergewaltigt worden war. Der berühmte Nervenarzt Charcot behandelt nicht etwa ihr Trauma, sondern führt seinen Studenten Louises «hysterische Anfälle» unter Hypnose vor. Neu eingewiesen wurde die blitzgescheite Eugénie: Sie wurde von ihrem Vater verstossen, weil sie mit Toten spricht – Spiritismus war damals in Mode. Auf der anderen Seite steht die Oberaufseherin Geneviève, die mit einer gewissen Gleichgültigkeit über ihre Patientinnen wacht. Erst die Begegnung mit Eugénie durchbricht ihre harte Schale und lässt sie an Charcots Methoden zweifeln.
Victoria Mas erzählt mit Empathie von diesen Frauen, die oft lebenslang in der Anstalt ausharren mussten und jeglicher Rechte beraubt wurden. Dramaturgisch geschickt steuert sie die Geschichte auf ihren Höhepunkt zu und stellt dieses dunkle Kapitel der Psychiatrie-Geschichte anschaulich dar. Gerne würde man aber statt der ausführlichen Darstellung von Eugénies spiritistischen Neigungen noch mehr über diese Zeit erfahren, welche die Frauen im Korsett der Konventionen gefangen hielt.
Buch
Victoria Mas
Die Tanzenden
Aus dem Französischen von Julia Schoch
240 Seiten
(Piper 2020)