1000 Geschichten, 1000 menschliche Regungen. Das ist das Ziel von Tim Krohn – sofern die Leserinnen und Leser bis zum Schluss dranbleiben. Denn diese haben Einfluss auf das Mammutprojekt des ambitionierten Autors. Auf der Crowdfunding-Plattform wemakeit konnten Interessierte für einen Betrag ab 250 Franken eine persönliche Geschichte erwerben: Dafür durften sie sich ein Gefühl – von Aalglätte bis Zynismus – aussuchen und dem Autor drei Stichwörter mitliefern, die in der Geschichte vorkommen sollen. Die ungewöhnliche Idee ist auf offene Ohren gestossen: Inzwischen hat er über 200 Gefühle literarisch verarbeitet.
Eine Wundertüte mit Lebensgeschichten
Aus der Geschichtenflut soll eine 15-teilige Romanserie entstehen. Vor kurzem ist der erste Teil unter dem Titel «Herr Brechbühl sucht eine Katze» erschienen. Angesiedelt sind alle Episoden in einer Genossenschaft im Zürcher Kreis 5. In den acht Wohnungen leben die unterschiedlichsten Menschen: charmante und grantige, kleingeistige und gutherzige, abenteuerlustige und zurückhaltende. Eine Wundertüte mit Lebensgeschichten.
Da ist zum Beispiel das Studentenpaar Pit und Petzi, die ihre erste gemeinsame Wohnung nutzen, um sich sexuell auszutoben. Über das wollüstige Gepolter ärgert sich Efgenia im oberen Stock, die durch ihr Rückenleiden arbeitslos und unleidlich geworden ist.
Vom Sonnyboy bis zum kauzigen Trämler
Die alleinerziehende Mutter Julia hat andere Sorgen: Ihr Chef ist mit ihrer Leistung als Lektorin unzufrieden, seit sie Arbeit und Kind unter einen Hut bringen muss. Ein wenig Trost bringt der 23-jährige Sonnyboy Moritz aus der unteren Etage, mit dem sie eine Affäre beginnt. Dieser hat zudem ein Auge auf die attraktive und eigensinnige Schauspielerin Selina geworfen. Zur alten Garde im Haus gehören der kauzige Trämler Hubert Brechbühl und das Ehepaar Wyss, das seit 50 Jahren verheiratet ist und sich noch immer mag.
Dieses bunte Trüppchen tummelt sich in den Geschichten. Der Glarner Autor hat selbst 20 Jahre in einer Genossenschaftswohnung im Kreis 5 gelebt. Aus diesen Erfahrungen rund um Waschküchenzoff, Liebeleien, geteilte Freuden und Leiden schöpft er viele Jahre später. Inzwischen lebt Krohn in einem 400-jährigen Haus im Bündner Dorf Santa Maria – zusammen mit seiner Frau, den zwei Kindern, den Schwiegereltern und seiner betagten Mutter. In der Ruhe des Münstertals, zwischen den mächtigen Bergen, die alle menschlichen Regungen relativieren, hat er den Kopf frei für seine Enzyklopädie der Gefühle.
Im Roman zeigt sich Krohn einmal mehr als feinfühliger Beobachter, der die Balance zwischen Ernst und Komik, Philosophie und Leichtigkeit findet. Nicht alle Geschichten sind gleich gelungen, manchmal fehlt die dichte Sprache seiner Werke wie «Quatemberkinder» oder «Vrenelis Gärtli». Und es dient zwar der Projektidee, wie schnell seine Figuren gegenüber Nachbarn ihre Gefühle preisgeben – im zurückhaltenden Zürich erscheint dies jedoch zuweilen unglaubwürdig. Insgesamt zeichnet Tim Krohn aber mit viel Schalk ein alltagsnahes Bild einer Genossenschaft. All die liebenswerten, schrägen Figuren würden sich auch bestens für eine Fernsehserie eignen. Vorerst jedoch lässt sich der Autor von seiner Leserschaft zu neuen Roman-Episoden inspirieren. Wer sich eine eigene Geschichte sichern will, kann sich unter www.menschliche-regungen.ch ein Gefühl aussuchen – von der Bockigkeit über die Grazie bis zur Stinkstiefelei.
5 Fragen an Schriftsteller Tim Krohn
«Ich bin selbst überrascht, dass es funktioniert»
kulturtipp: Wie kam es bei der Leserschaft an, dass Sie Ihre Geschichten auf einer Crowdfunding-Plattform verkaufen?
Tim Krohn: Die meisten Reaktionen auf das Projekt sind positiv. Mit einigen Lesern, die Geschichten bestellt haben, ist ein reger Austausch entstanden. Ein paar wenige fanden das Projekt daneben. Aber mit den blossen Tantiemen eines Romans, an dem ich jahrelang arbeite, kann ich meine Familie nicht ernähren. Der Markt in der Schweiz ist klein. Den Auslöser für Crowdfunding gab meine betagte Mutter. Mit dem Erlös der ersten Geschichten haben wir für sie ein ebenerdiges Badezimmer in unserem alten Münstertaler Haus finanziert. Bisher sind insgesamt rund 70 000 Franken zusammengekommen.
Ihr Ziel ist es, jeden Tag eine Geschichte zu schreiben. Haben Sie keine Angst vor dem leeren Blatt?
Nein, auch wenn ich zuerst leer geschluckt habe, als ich nach einem Monat den Auftrag für 130 Geschichten hatte! Ich habe auch schon zehn Jahre an einem Roman geschrieben, aber hier ist es Teil der Spielregeln, dass jeden Tag eine Geschichte entsteht. Beim Spazieren nach dem Mittagessen formiert sich die Geschichte im Kopf. Über die Zusatzbegriffe, die ich von den Lesern erhalte, recherchiere ich bereits am Tag vorher. Ich bin selbst überrascht, dass ich so viel schreiben kann – und dass es funktioniert, beseelt ist.
Wie hat sich die Art des Schreibens bei diesem Projekt verändert?
Ich bin viel fremdbestimmter. So schreibe ich die Geschichten in der Reihenfolge, in der die Aufträge der Leser bei mir ankommen. Ich weiss also nicht im Voraus, wo meine Figuren hinsteuern – wie im echten Leben, in dem es offen ist, was am nächsten Tag passiert. Wenn ein Begriff eintrifft, überlege ich mir, bei welcher meiner Romanfiguren ich das Gefühl ansiedeln kann, so kann ich ihr Schicksal zumindest mitsteuern. Aber das primäre Ziel ist es ja nicht, die Geschichte eines Menschen zu erzählen. Vor allem möchte ich sämtliche Facetten der jeweiligen Gefühlsregung ausloten, positive wie negative.
Daraus entstehen überraschende Verknüpfungen. Im Kapitel zur «Lebendigkeit» etwa taucht unverhofft das alte Ehepaar Wyss auf, das sich übers Sterben Gedanken macht.
Ja, das Gefühl zeigt sich häufig schöner auf einer Negativfolie. Andererseits sind die Wyssens auch ausgesprochen vital.
Ihre Figuren sprühen oft vor Lebenslust. Die Sexualität spielt in Ihrem Roman eine wichtige Rolle …
Das stimmt. Es gibt drei Grundorte, in denen sich der Mensch noch als Tier zeigt und wir auf unsere Biologie zurückgeworfen sind: das Sexualverhalten, die Nahrung und der Tod. Alle drei sind in meinen Büchern stets stark vertreten.
Musikalische Lesung
Fr, 31.3., 19.30
Rittersaal Schloss Rapperswil SG
Buch
Tim Krohn
«Herr Brechbühl sucht eine Katze»
480 Seiten
(Galiani Verlag 2017).