Die Abmachung ist klar und mit wenigen Worten besiegelt. «Ein paar Tage lang» darf der Ich-Erzähler den 90-jährigen Felice durch dessen Alltag begleiten. Die beiden sind Nachbarn und kennen sich. Wobei das namenlose Ich, so scheint es, nach Jahren in der geschäftigen Welt die Rückkehr in die zeitlose Stille der Bergwelt lernen muss. Und Felice als Mentor wählt. «Die Zeit vergeht langsam, sachte», lautet eine erste Erkenntnis. «Wir haben kein Wort miteinander gesprochen.»
Schreiben in der alten Heimat
Nach und nach wird klar: Felice und sein Nachbar leben in Leontica, einem Dorf hoch über dem Bleniotal im nördlichen Tessin. Dort, wo die Hunde frei herumstreunen und die Tage sich gleichen. Dort, wo die Menschen sich wortlos verstehen und die Freuden des Lebens ebenso teilen wie die Bürden. Auch Autor Fabio Andina lebt teilweise in Leontica. Vor 47 Jahren in Lugano geboren, hat er in den USA Film studiert, einer schillernden Karriere aber das Schreiben in seiner alten Heimat vorgezogen. «Tage mit Felice» ist sein zweiter Roman und der erste, der auf Deutsch erscheint.
Es passiert nicht viel auf diesen 235 Seiten. Und doch liest man sich mit zunehmender Faszination hinein in dieses Welttheater, das jedem Augenblick einen existenziellen Zauber beschert. Felice lebt im Gleichklang mit der Natur, die ihm Körper, Geist und Seele nährt. Mit den Berggipfeln des Sosto, Simano oder Erra, die ihm seine Welt rahmen. Mit den Menschen im Dorf und den Tieren, die ihm nahe sind.
Fabio Andinas Sprache ist sparsam und treffend. Je nach Szenerie protokolliert er skizzenhaft nach Art des teilnehmenden Beobachters. «Eternitdach, kein Strom, eigentlich nicht bewohnbar, der Wasseranschluss ein Gummischlauch von einem Bach ins Haus», beschreibt er die Hütte von Floro, 40, Kaminfegersohn. Für Felices Nachbarin Vittorina wird der Tonfall zur Poesie: «Langer schön geflochtener Zopf aus braungrauen Haaren, zweiundachtzig ist sie und zierlich wie ein Zaunkönig.» Zuweilen klingt die ironische Verspieltheit eines Arno Camenisch an, dann die empathische Melodie einer Leta Semadeni.
Ein Alltag voller Ruhe und Gelassenheit
Sieben Tage und Kapitel lang rapportiert der Ich-Erzähler das Leben von Felice, der im Dunkeln aufsteht und in einem Bergsee seine Morgentoilette verrichtet. Der dann Holz hackt, Leute besucht, ihnen Kakis bringt und dafür Eier oder Käse nach Hause trägt. Der Gedanken liest und in Gesellschaft kein Wort zu viel spricht. «Wir sagen mèrsi und machen den Mund dann nur noch zum Essen auf.»
Felices Lebensart hinterlässt beim Ich-Erzähler einen prägenden Eindruck. «Ich bewundere seine Ruhe, seine Gelassenheit. Er verzweifelt nie (...) Ich kenne ihn nur heiter und zufrieden.» Ein Bild, das im italienischen Original-Titel anklingt: «La pozza del Felice» lässt sich übersetzen mit «Der Tümpel des Felice» – oder eben «des Glücklichen». Beim Lesen blitzen oft Bilder eines anderen Glücklichen auf: Lucky im gleichnamigen Film von John Carroll Lynch mit dem 90-jährigen Harry Dean Stanton in der Hauptrolle.
Buch
Fabio Andina
Tage mit Felice
Aus dem Italienischen von Karin Diemerling
235 Seiten
(Edition Blau 2020)